018 - Die Vampirin Esmeralda
mehr.«
Sie wunderte sich, daß sie sich, ohne besondere Scham zu empfinden, unter den geilen Blicken der Gefängniswärter umziehen konnte. Wie schnell man jegliche Scham und Menschenwürde verlieren konnte! Noch vor einigen Tagen wäre sie lieber gestorben, als diese Schmach über sich ergehen zu lassen.
»Ist sie nicht schön?« spotteten die Soldaten.
»Die schönste Hexe, die diese Mauern jemals gesehen haben.«
Esmeraldas Verstand begann wieder zu arbeiten. Sie erinnerte sich schlagartig der Berichte, die sie über die Spanische Inquisition gelesen hatte, und an die Torturen, die man bei den Verhörten angewandt hatte. Sie wußte, daß ihr noch Furchtbares bevorstand, wenn sie dem Tribunal vorgeführt wurde, und sie faßte in diesem Augenblick einen verzweifelten Entschluß: Wenn sie auch nur die geringste Überlebenschance haben wollte, durfte sie unter keinen Umständen die Wahrheit über ihr Schicksal sagen. Denn niemand würde ihr glauben, daß sie ganz unschuldig in die Vergangenheit verschlagen worden war.
Sie wurde von sechs Wärtern in einer geradezu feierlich anmutenden Prozession in eine unterirdische Grotte mit gewölbter Decke geführt. Entlang der einen Wand stand ein langer Tisch, an dem das Tribunal Platz genommen hatte. Das Tribunal setzte sich aus zehn Männern zusammen. Ihm gehörten zwei Inquisitoren an, die violette Kleider mit weißen, achteckigen Kreuzen vorn und hinten trugen. Esmeralda konnte nicht sagen, wer von beiden Lucero war oder ob es sich bei einem der beiden Inquisitoren überhaupt um ihn handelte. An dem Tisch, auf dem Kerzen standen und Schreibutensilien lagen, saßen noch zwei Notare, ein Fiskaladvokat und ein Qualifikator, der als theologischer Berater galt. Als Rechtsgelehrter mit bloß beratender Funktion war ein Konsulator anwesend, außerdem hatten sich noch ein Alguacil oder Obergerichtsdiener und der Kerkermeister eingefunden.
Diese zehn Männer hatten die Plätze hinter dem Tisch eingenommen. Weiter befanden sich im Raum noch fünf Gefangenenwärter und drei Folterknechte. Letztere waren in schwarzen Zwillich gehüllt und trugen Gesichtsmasken. Die sechs Wärter, die Esmeralda hergeführt hatten, blieben ebenfalls. Sie nahmen im Hintergrund Aufstellung, während sich das Tribunal erhob. Von der Wand hing die Fahne der Spanischen Inquisition. Sie bestand aus rotem Samt. Auf der Vorderseite befanden sich ein grünes Kreuz, rechts ein Olivenzweig, links ein Schwert und die Inschrift: Exurge domine et judica causam tuam, Psalm 73. Obwohl sie die Rückseite der Fahne nicht sehen konnte, wußte Esmeralda, daß dort das spanische Wappen eingestickt war.
Sie verstand kaum ein Wort, als die kurze und prägnante Anklage gegen sie vorgelesen wurde. Sie blickte immer wieder scheu zu den vermummten Folterkechten hinüber, die mit vor der Brust verschränkten Armen an ihren Folterwerkzeugen standen. Neben einem Eisengestell mit glühenden Kohlen erblickte sie einen nackten Körper, der auf ein Streckbett geschnallt war. Es handelte sich um eine Frau, die verhalten wimmerte. Esmeralda erkannte sofort die fette Carmen, die mit ihr auf dem Leiterwagen nach Cordoba gebracht worden war.
»Bekennst du dich schuldig, mit dem Satan im Bunde zu stehen und an den Sabbaten im Verirrten Lamm teilgenommen zu haben, Esmeralda? Willst du gestehen, dich der Schwarzen Magie verschrieben und als Hexe Unzucht mit dem Teufel und seinen Dämonen getrieben und Unheil über die christliche Menschheit gebracht zu haben? Siehst du deine Verfehlungen ein und willst du die gerechte Strafe dafür über dich ergehen lassen, Esmeralda?«
Sie wandte sich herum und blickte in Richtung des Tribunals. Der rechte der beiden Inquisitoren hatte das Wort an sie gerichtet. Er war groß und schlank und sah in seiner feierlichen Tracht wie ein erhabener, aber unerbittlicher Racheengel aus. War das Lucero?
»Nein!« schrie sie. »Ich bin unschuldig. Ich habe nichts getan. Ich bin ganz ohne meinen Willen in den Kreis der Teufelsanbeter geraten.«
Von der Streckbank ertönte schrilles Gelächter. »Sie ist eine Lügnerin!« schrie Carmen hysterisch. »Sie ist eine Hexe, die vom Teufel die Gabe erhalten hat, die Zukunft zu deuten und kommende Geschehnisse vorauszusagen.«
Der Inquisitor im violetten Gewand wandte mit strenger Miene den Kopf in ihre Richtung. Das genügte. Sofort war ein Folterknecht zur Stelle und ließ Carmen die Peitsche spüren.
»Wirst du den Mund halten, verfluchte Hexe, und ihn erst auftun,
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