018 - Die Vampirin Esmeralda
worden. Davon erwähnte Juan verständlicherweise seinem gestrengen Vater gegenüber nichts.
Juan empfand seiner Familie gegenüber keine Gewissensbisse, denn er fühlte sich ihr überhaupt nicht verpflichtet. Er wußte, daß sein Vater und seine Mutter nicht seine wirklichen Eltern waren, deshalb richtete er sich nicht nach ihnen, sondern ging seinen eigenen vorbestimmten Weg. Sein Ziel war der Kampf gegen die Inquisition, die Befreiung unschuldiger Opfer und die Vernichtung der wirklichen Dämonen.
Sein Erzieher Fernando de Loaisa stand ihm dabei nicht im Weg. Dieser war froh, sich seinen Lebensunterhalt auf diese Weise verdienen zu können, und sah zu, das Erziehungsrecht über Juan nicht zu verlieren. Deshalb ließ er seinem Schützling jene Freiheit, die er über alles zu lieben schien. Freilich konnte Don Fernando, wie Juan ihn schmeichelhaft nannte, nicht ahnen, daß sein Schützling ein Revolutionär, ein Reformist wider die Inquisition war. Don Fernando hatte Juan sogar die gefälschte Einladung verschafft. Juan gab sie am Tor des Patrizierhauses dem Soldaten der Inquisition, der alle Gäste einer genauen Prüfung unterzog. Er wurde unbeanstandet eingelassen und mischte sich unter die anderen Gäste, von denen er niemanden persönlich kannte, deren Namen und Aussehen ihm jedoch geläufig waren; er hatte schon viele dieser Gesichter in den Ehrenlogen während der Autodafés gesehen.
Sie waren auch alle bei dem Ketzergericht anwesend gewesen, das gestern stattgefunden hatte und bei dem die zwölf Teufelsanbeter verbrannt worden waren, die man während eines Sabbats im Verirrten Lamm überrascht hatte. Juan selbst war es gewesen, der den Santas Hermandades – einer Bruderschaft von Spionen im Dienste der Inquisition – diesen Tip gegeben hatte. Jetzt bereute er es. Und wie er bereute!
Er schob die unerfreulichen Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf die Geschehnisse um sich herum. Die meisten Gäste hielten sich im Innenhof unter den schattigen Lauben auf und labten sich an dem von den Dienern in großen Mengen gereichten Veinticuatro.
Juan ließ sich ebenfalls ein Glas aufdrängen, nippte an dem Wein jedoch nur vorsichtig, um einen klaren Kopf zu behalten. Für ihn war es vielleicht der größte Augenblick in seinem jungen Leben. Während er durch den Hof schlenderte, über die Treppe ins Obergeschoß ging und die Laubengänge entlangschritt, beobachteten seine Augen scharf, aber er konnte weder den Inquisitor Lucero erblicken noch eine Frau, auf die die Beschreibung Esmeraldas zutraf.
Er mußte lange warten und hatte es inzwischen doch riskiert, zwei Gläser Veinticuatro zu trinken, bis Lucero endlich mit seinem Schützling auftauchte.
Die Sonne stand schon tief. Im Hof waren Fackeln angezündet worden. Eine Tanzgruppe gab gerade eine Seguidilla zum besten, als das schwere Tor aufging und die kostbare Kutsche des Inquisitors hereinrollte. Lucero trug sein violettes Festgewand wie gestern beim Autodafé. Hinter ihm entstieg der Kutsche eine berauschend schöne Frau. Aber bei genauerem Hinsehen konnte man feststellen, daß sich um ihre Mundwinkel Furchen des Leids in die makellose Haut eingegraben hatten. Tief in ihren großen Augen loderte die Angst.
Wußte die Hexe Esmeralda, daß der Tod hier auf sie lauerte? Oder war es die Angst einer Unschuldigen? Juan würde es herausfinden.
Esmeralda fand immer mehr Freude daran, ihre Macht auszukosten. Sie ging an der Seite des Inquisitors, der ihr vertrauliche Hinweise über die einzelnen Gäste gab, an denen ihm etwas lag. Er klärte sie über ihren Stand, ihre Herkunft, ihr Vermögen, ihren Ruf und über ihren politischen Einfluß auf. Aus all diesen Informationen sollte sie dann ihre Schlüsse ziehen.
Während sie an der Seite des Inquisitors einherschritt, beobachtete sie die Leute. Fast alle wurden bei ihrem Anblick unsicher, versuchten aber, ihre Nervosität auf diese oder jene Weise zu überspielen. Es verfehlte nie seine Wirkung, wenn Lucero mit Esmeralda bei einer Gruppe von Leuten stehenblieb, ihr jeden einzelnen vorstellte und umgekehrt nur ihren Namen nannte. Esmeralda! Es hatte sich herumgesprochen, daß sie Hexen und Dämonen aufspüren könnte. Man fürchtete sie, weil ein Wort von ihr genügen konnte, einen in die Mühlen der Inquisition geraten zu lassen.
Als sie ihre erste Runde gemacht hatten, führte Lucero sie in einen Raum, der ihm vom Hausherrn als eine Art Arbeitszimmer zur Verfügung gestellt worden war. Hierher konnte sich
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