0183 - Der Mann, der das Grauen erbte
Zamorra war froh, daß er an dem Gespräch nicht mehr teilhaben mußte. Die Ruhe, die er die ganze Zeit über zur Schau getragen hatte, war nur gespielt. In Wirklichkeit brodelte es in seinem Inneren. Er ahnte, was Celham umgebracht hatte, aber der Gedanke war zu schrecklich, um ausgesprochen zu werden. Er hatte die Texte in Celhams Buch gelesen.
Es waren die echten Beschwörungsformeln. Lovecraft hatte sich in seinen Büchern gefährlich nah an die Wahrheit herangewagt, aber er war trotz allem vorsichtig genug gewesen, die Texte so zu verfälschen, daß niemand auch nur versehentlich die wirklichen Beschwörungsformeln auszusprechen oder auch nur zu denken. Celham schien diese Skrupel nicht gekannt zu haben. Die Texte in seinem Buch waren echt, und sie konnten jedem, der wußte, wie er sie anzuwenden hatte, zu ungeheurer Macht verhelfen.
Aber sie konnten auch zu einer Gefahr werden. Wahrscheinlich hatte Celham damals einfach nicht gewußt, was er da in seiner Unbefangenheit publizierte. Er war irgendwie in den Besitz der Originaltexte aus dem Nekronomikon gekommen, wahrscheinlich, ohne zu diesem Zeitpunkt zu ahnen, was er da in Händen hielt.
»Ich hoffe nur, es ist noch nicht zu spät«, murmelte er halblaut.
Nicole nahm für einen Moment den Blick von der Straße und sah ihn ernst an. »Du machst dir Sorgen, nicht?« fragte sie. Zamorra antwortete nicht, aber Nicole fuhr unbeeindruckt fort. »Ich habe mir im Flugzeug das Buch vorgenommen«, sagte sie. »Celhams Buch - und den Roman von Lovecraft. Wenn du dich nicht irrst… ich meine, wenn es wirklich mehr ist als ein einfacher Gruselroman…« Sie brach ab. Eine steile Falte erschien über ihrer Nasenwurzel. »Eine grauenhafte Vorstellung.«
Sie hatte so leise gesprochen, daß die beiden anderen auf dem Rücksitz nichts von ihren Worten verstanden hatten, und Zamorra war ihr dankbar dafür. Es reichte vollkommen, wenn Sie verunsichert war.
Sie - und er.
Er lehnte sich zurück, versuchte, sich zu entspannen und beobachtete die vorüberhuschenden Bäume. Am liebsten wäre er sofort zu den Ruinen von Celhams Haus hinausgefahren. Aber es war schon spät; die Sonne würde in längstens einer Stunde untergehen. Es war besser, wenn er wartete und das Tageslicht ausnütze, um mit seinen Nachforschungen zu beginnen.
***
Clavers wartete eine Viertelstunde, ehe er sich auf die Suche nach Beren machte. Es war kalt geworden dort unten in dem engen, zugigen Loch, und die unwirkliche Atmosphäre und die Gegenwart jenes unerklärlichen Tunnels hatten an seinen Nerven gezerrt. Der Schnaps hatte ihn eine kurze Zeit gewärmt, aber die Flasche war schnell leer, und als die Wirkung des Whiskys nach wenigen Minuten verflog, fror er umso stärker.
Er klaubte die Taschenlampe vom Boden auf und machte sich auf den Weg nach oben. Die Treppe schien mit einem Mal viel steiler und unwegsamer als beim Abstieg, aber das lag sicher an seiner Erschöpfung. Er stolperte, glitt aus und fiel auf Hände und Knie. Die Stufen waren glitschig und unsicher, und nachdem er sich an einem querliegenden Balken die Schienbeine blutig geschlagen hatte, entschloß er sich, die letzten Stufen besser kriechend zurückzulegen.
Oben angekommen, richtete er sich schweratmend auf. Von Beren war nirgends eine Spur zu sehen, aber das war nicht weiter verwunderlich. Das trübe Mondlicht reichte kaum aus, um die eigene Hand vor Augen zu sehen. Aber Clavers kannte sich hier gut genug aus. Er hätte den Weg zurück zum Wagen auch mit geschlossenen Augen gefunden. Er rief ein paarmal nach Beren, aber er bekam keine Antwort. Schließlich machte er sich wütend auf den Weg. Die Nervosität des anderen war ihm schon vorhin aufgefallen - wahrscheinlich hockte er im Wagen, zitterte vor Angst und traute sich nicht mehr zurück. Clavers nahm sich vor, ihm gründlich die Meinung zu sagen. Beren war im Grunde ein guter Kumpel, aber er hatte Nerven wie ein Schuljunge und brauchte ab und zu einen Tritt, um zu spuren.
Vorsichtig, um nicht wieder hinzufallen, tastete er sich über die chaotisch durcheinandergewirbelten Trümmer der eingestürzten Mauern und Wände. Der stehengebliebene Türrahmen tauchte wieder vor ihm auf, ein stummer Wegweiser in der Dunkelheit. Er änderte seine Richtung um eine Winzigkeit, stieg über die kniehohen Überreste der Grundmauer und schritt schneller aus.
Er hatte etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt, als er auf die Leiche stieß.
Es war nicht der erste Tote, den er sah, und auch nicht
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