0191 - Fenris, der Götterwolf
weiter. Kaum wagte sie zu atmen, aber innerlich schrie sie nach ihren Eltern, obwohl kein Laut aus ihrem Mund drang.
Der Wolf biß nicht zu, aber sie hörte eine Stimme. Eine menschliche Stimme, und sie drang aus dem Rachen des Tieres.
Ein Wolf der sprach.
»Laufe nach Hause, Kind! Lauf weg und sage den anderen, daß sich der Fluch erfüllt. Avoca und die Bewohner dieser Stadt sind dem Tode geweiht. Geh und sag ihnen das!«
Der Wolf zuckte mit seiner Schnauze zurück, als er die Worte gesprochen hatte. Rose war wieder frei.
Für wenige Sekunden stand sie bewegungslos. Sie spürte den Schauder auf ihrem Rücken und schielte nach rechts, wo sich der Wolf langsam in Bewegung setzte, zu seinem Artgenossen ging und neben ihm stehenblieb. Dann machten beide kehrt und jagten mit gewaltigen Sprüngen erst über den Graben an der Straße und danach auf das Feld, wo der grauweiße Dunstschleier sie verschluckte und ihren Anblick den Augen des Mädchens entzog.
Der Spuk war gekommen, der Spuk war verschwunden. Nur Rose Kiddlar stand wie verloren auf dem schmalen Feldweg. Wie hatte der Wolf noch geflüstert?
Lauf weg und sage den anderen Bescheid.
Diese Worte wirkten bei der neunjährigen Rose Kiddlar wie ein verspätetes Alarmsignal.
Als hätte jemand einen Startschuß gegeben, so rannte sie los. Die Angst peitschte sie regelrecht voran…
***
Der Wolf stand dicht an der Tür und fletschte die Zähne. Und das waren Hauer, Teufel noch mal.
Richtige Reißer, gelblich schimmernd, gefährlich anzusehen. Aber noch mehr faszinierten mich die Augen. Es waren nicht die normalen Augen eines Wolfes, diese hier glänzten in einem kalten, gefährlichen Rot und zeigten eine Erbarmungslosigkeit, die mich frösteln ließ.
Leicht geduckt stand er da. Das Maul aufgerissen, aus dem Geifer tropfte.
Die anderen Gäste hatte ebenfalls nichts mehr auf ihren Plätzen gehalten. Nur wagte sich jetzt niemand vor. Die Frauen und Männer standen dicht an den Wänden und preßten sich mit dem Rücken dagegen.
Auf keinen Fall sollte es der Bestie gelingen, die Leute anzugreifen, denn dazwischen standen noch Suko und ich.
Ich riskierte es und warf einen schnellen Blick auf den Pfarrer. Der war leichenblaß geworden, ebenso blaß wie Emily Berger und das ältere Ehepaar.
Ich hörte nur, wie der Mann sagte: »Der Fluch. Er wird sich erfüllen, die Zeit ist da!«
Normalerweise hätte ich die Beretta gezogen, um mich bei einem Angriff wirksam verteidigen zu können. Das jedoch ging nicht.
Zwar hatten wir unsere Waffen mitgenommen, doch die befanden sich im Wagen. Auf der Beerdigung wollte ich nicht mit der Pistole herumlaufen. So etwas rächte sich jetzt.
Was tun?
Mein Kreuz. Vielleicht konnte ich es damit schaffen. Aber ich wagte nicht, meine Hand zu heben, der Wolf hätte die Bewegung mißverstehen können.
»Geh langsam vor«, sagte Suko zischend.
Ich stand direkt vor dem Wolf, Suko im rechten Winkel zu ihm. In seinem Rücken befand sich das zerstörte Fenster.
»Und dann?«
»Mal sehen, John.«
Suko hatte recht. Ich konnte hier nicht lange warten, sondern mußte selbst etwas unternehmen.
Das tat ich auch.
Ich bewegte mich, setzte erst das rechte Bein vor, dann das linke.
Langsam näherte ich mich dem Wolf und war darauf bedacht, keine hastige Bewegung zu machen.
Er konzentrierte sich auf mich. Die roten Augen funkelten mich an. Wenn er springen sollte, dann wollte ich meinen rechten Arm hochreißen und versuchen, ihn abzuwehren. Gleichzeitig mußte ich auch irgendwie an mein Kreuz gelangen, denn daß dieser Wolf schwarzmagisch beeinflußt war, lag auf der Hand, ansonsten hätte er nicht die roten Augen besessen.
Würde er es wagen?
Er sprang!
So schnell, daß ich es kaum mitbekommen hatte. Als der vielstimmige Aufschrei gellte, befand er sich bereits in der Luft. Ich bekam wirklich noch soeben meinen Arm hoch, um die Kehle zu schützen, als er schon gegen mich prallte.
Der Ansturm warf mich um.
Ich knallte nicht zu Boden, sondern fiel rücklings über einen Tisch, von dem ich das Geschirr und den Kuchen abräumte. Mit dem linken Bein stieß ich gegen den Tischrand und spürte sofort wieder die schrecklichen Schmerzen, die von der Wunde her aufflammten.
In das Schreien der Gäste mischte sich das gefährliche Knurren des Wolfes, das mich schon an ein Fauchen erinnerte. Die Tür wurde aufgerissen. Gäste, der Wirt und die Kellnerin stürmten in den Raum. Das allerdings sah ich nicht, sondern Suko, der die Leute anschrie und
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