0191 - Fenris, der Götterwolf
Abbild zeigte sich weiterhin am Himmel, und ich prägte es mir genau ein. Dabei dachte ich an einen Fall, bei dem wir es auch mit einem Dämonenwolf zu tun gehabt hatten. [3] Aber dies hier war der echte Fenris. Der Götterwolf, und er stand auf der falschen Seite, denn er hatte sich mit der Hölle verbündet.
Die Sekunden des Schweigens kamen mir endlos vor. Wie würde Fenris reagieren? Nahm er das Opfer an?
Sprechen konnte er nicht. Aber er reagierte auf seine Weise. Plötzlich war sein Bild verschwunden, nur noch die rotviolette Wolke stand in der Luft und vermischte sich mit dem Nebel.
Doch dicht über dem Boden begann sie zu flimmern. Konturen schälten sich hervor. Die Umrisse eines Tieres.
Fenris kam.
Dann war er da!
Immer noch groß und gewaltig. Er reichte der Äbtissin bis zur Schulter. Sein Maul hatte er geöffnet. Roter Brodem quoll daraus hervor. Die Augen blitzten gefährlich, und auch mir rann es eiskalt den Rücken hinab.
Die Nonnen hatten den Kreis vergrößert. Ihrer Haltung war anzusehen, daß sie sich fürchteten, denn dieser Riesenwolf war kein normales Tier, sondern ein Abbild des Schreckens.
Nur eine war geblieben.
Die Äbtissin.
Sie stand dem Tier gegenüber. Vielleicht drei Schritte trennten sie von dem Dämonenwolf.
Und dann sprach das Tier.
Zuerst bekam auch ich einen Schock, wollte es nicht glauben, doch Schwarze Magie machte so etwas möglich.
»Wer bist du?« fragte der Wolf.
»Clarissa. Ich werde die Rolle übernehmen, die Schwester Barbara gehabt hatte.«
»Ich weiß, sie ist tot.« Der Wolf schüttelte sich. »Kannst du dir erklären, wie es dazu gekommen ist?«
»Nein«, antwortete die Äbtissin.
»Aber ich. Es gibt einen Menschen in der Nähe, der stark ist. Er hat das Kreuz der Macht, und er ist gekommen, um uns, die Wölfe, zu vernichten. Was vor Tausenden von Jahren hier auf diesem Platz geschah, soll auch noch lange Zeit Bestand haben und in die Ewigkeit übergreifen. Ich kann dein Opfer nur dann annehmen, wenn ihr den Mann mit dem Kreuz findet.«
Ich hörte, wie Clarissa Atem holte. So erregt war sie. »Und was geschieht mit den Menschen?« stieß sie hervor.
»Sie sind so lange ohne Schutz. Ich habe meine Wölfe in den Ort geschickt, und sie haben mir berichtet, daß der Mann, den ich suche, nicht weit von hier steckt.«
»Wo ist er?«
Ich spannte mich. Das Kreuz und die Beretta hatte ich gezogen.
Auch Suko mußte die Worte vernommen haben. Er lauerte irgendwo im Hintergrund. Für mich war es gut, dies zu wissen.
»Was wirst du tun, wenn du ihn findest?« fragte der Wolf.
»Ich weiß es nicht.«
»Ihr könnt ihn töten!«
»Nein, wir töten keine Menschen!«
Da lachte der Wolf, und es hörte sich an wie das Grollen des Donners. »Du willst ihn nicht töten? Ihn – einen Feind? Dann mußt du auch die Folgen tragen. Ich habe dir schon gesagt, daß meine Diener in das Dorf eingefallen sind. Dort befinden sich Menschen. Sie sind schutzlos. Wenn du den anderen nicht tötest, dann werden die Wölfe die Menschen im Dorf zerfleischen, wie sie es früher getan haben. Nie mehr wird Ruhe einkehren, und der Ort wird zu einem gewaltigen Grab. Hast du mich verstanden?«
»Ja.«
»Und wie willst du dich nun entscheiden?« fragte Fenris, der Götterwolf.
Die Äbtissin schwieg. Ich konnte mir vorstellen, daß sich hinter ihrer Stirn die Gedanken jagten. So eine schwere Entscheidung hatte sie bestimmt noch nicht in ihrem Leben getroffen.
»Wo ist der Mann, von dem du geredet hast?« fragte sie schließlich.
Da lachte Fenris. »Er ist hier.«
»Wo?«
»Hinter dir!«
Die Nonnen drehten sich um. Auch die beiden, die das Grab schaufelten.
Und ich erhob mich!
***
Man hatte den Toten weggeschafft. Father Stone war dabeigewesen, und er hatte überlegt, ob er zu Kiddlars Frau gehen sollte, um ihr das Beileid auszusprechen. Dazu hätte er das Dorf verlassen müssen, und das wollte er auch nicht. Die Menschen hier brauchten jede Hand, und auch seinen Beistand.
Niemand wußte zu sagen, wieviele Wölfe sich noch innerhalb der Straße aufhielten. Vielleicht hatten sich auch welche versteckt, waren in Schuppen oder Häuser gekrochen und lauerten dort im Schutz der Dunkelheit und des Nebels auf die Beute.
In der Gastwirtschaft hatten sich einige Männer versammelt. Der Bürgermeister war ebenfalls vertreten. Er hieß Gillan, war ein verschlossen wirkender Mensch mit buschigem Schnauzbart und sehr blauen Augen. Ein Mann, der über die Geschichte des Ortes genau Bescheid
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