0191 - Fenris, der Götterwolf
sich über den kleinen Klosterfriedhof. Gespenstisch wirkte die Szene. Da war der Nebel, dessen geisterfahle Schwaden wallten und rollten. Manchmal erinnerten sie mich an große Tücher, die alles zudecken wollten, damit niemand das Elend der Welt mehr sah. Die Nonnen, in ihren langen Kutten und ebenfalls von Schleiern umspielt, bildeten zusammen mit den Grabsteinen die gruselige Kulisse für mich und den Wolf.
Mein Blick wanderte nach rechts. Dort stand die Äbtissin. Clarissa hieß sie. Eine Frau, die einen ungeheuren Mut bewies, indem sie gegen den Wolf und das Schicksal ankämpfte. Sie wollte sich opfern, um Menschen zu retten, damit auch der ewige Kreislauf nicht unterbrochen wurde.
Genau das wollte ich nicht.
Der Kreislauf sollte unterbrochen werden, es sollten keine Menschen mehr sterben, es sollten keine Opfer mehr gebracht werden.
Einmal mußte Schluß sein. Zu lange schon war der tödliche Kreislauf gelaufen, jetzt nicht mehr.
Aber konnte ich einen Kampf gegen den mächtigen Wolf überhaupt gewinnen?
Das war die große Frage. Ich wußte aus Sagen und Legenden, wie gefährlich der Götterwolf war. Er, der die germanischen Gottheiten auf ihren wilden Raubzügen begleitete und der auch Thor zur Seite gestanden hatte.
Der Gott mit dem gewaltigen Hammer, der von den Germanen und den Wikingern gleichzeitig verehrt wurde.
»Wer bist du, Mann mit dem Kreuz?«
Ich lächelte. »Hat sich das in eurer Welt noch nicht herumgesprochen? Du müßtest mich doch kennen, oder hat der große Thor dir nichts davon erzählt?«
»Dann bist du John Sinclair, der Geisterjäger!«
»Richtig. Und ich habe einmal mit Thor Seite an Seite gekämpft, als Partner.«
Das war nicht gelogen, denn mich hatte mal ein Fall in die Lüneburger Heide geführt, wo sich untote Wikinger und Germanen zu einem erbarmungslosen Kampf trafen. [4] Mittendrin Will Mallmann und ich. Und damals mußten wir auch noch das Leben zahlreicher Kinder retten.
Dieser Wolf wußte also doch Bescheid. Ich schaute auf sein gewaltiges Maul. Die Zunge hing wie ein großer Lappen darin, und sie bewegte sich.
»Du kannst mir viel erzählen, Geisterjäger!« fauchte er mir entgegen. »Und es stimmt auch, was du gesagt hast. Aber das Vergangene und das hier sind verschiedene Dinge. Ich sehe nicht ein, daß du mir hier ins Handwerk pfuschst. Vor langer, langer Zeit habe ich diesen Flecken Erde erobert. Ich nahm ihn den Kelten weg, und die Wölfe, die in den tiefen Wäldern lebten, machte ich zu meinen Dienern. Sie haben mir immer gehorcht, sie gehorchen mir auch jetzt. Als Dank für diesen Stützpunkt besorge ich dem Teufel Seelen. Und zwar Seelen von Gerechten, wie diesen Frauen hier.«
»Seit wann paktiert ein Mitglied des Götterreigens mit dem Teufel?« höhnte ich.
»Das ist meine eigene Sache!«
»Dann weiß Thor nichts davon.«
»Nein. Und du wirst auch keine Gelegenheit haben, es ihm zu verraten, Geisterjäger. Asmodis bekommt noch eine Seele von mir. Nämlich deine. Darauf ist er besonders scharf. Wie ich hörte, bist du ihm entkommen, als er die Blutorgel spielte, aber heute entkommst du ihm nicht mehr.«
»Und was ist mit der toten Frau, die plötzlich zu einem Wolf geworden ist?«
»Es war einfach Pech, wie ihr Menschen sagt. Sie hätte ihre Ruhe finden können, doch ihre Seele geriet in eine für sie unangenehme Konstellation. Ich wußte genau, daß ich heute zurückkehren würde und streckte schon meine Fühler aus. Die magische Sphäre erreichte meine schlafenden Diener, so daß die Wölfe wieder erschienen, um die Menschen zu terrorisieren. Jeder frisch aufgebahrte Mensch, der in die magische Vorentladung hineingerät, wird zu einem Wolf. So ist es auch der Frau ergangen. Wenn du sie erlösen willst, dann mußt du sie schon töten, John Sinclair.«
Das waren harte Worte. Ich hatte sie begriffen, und ich wußte ferner, daß mir wohl kaum eine Chance blieb, Nadine Berger zu retten.
Denn töten konnte ich sie nicht.
Nein, das würde ich nicht fertigbringen.
Zum erstenmal meldete sich die Äbtissin zu Wort. Sie hatte eine klare, weiche und angenehme Stimme. Ihr Gesicht war blaß, die Augen dunkel. Sie drehte den Kopf und wandte sich an den Wolf.
»Laß ihn leben, Fenris. Nimm meine Seele, so wie es schon immer gewesen ist, aber er soll nicht sterben.«
Die Worte paßten dem Wolf nicht. Sein pechschwarzes Fell sträubte sich. Dann fauchte er Clarissa an. »Weißt du überhaupt, wer er ist? Geisterjäger John Sinclair. Er ist ein Feind der
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