0191 - Fenris, der Götterwolf
stehen und schaute wie wir in den wallenden Nebel, aus dem sich schemenhaft ein Gesicht schälte. Breit war es, wild und ungezügelt. Auf dem Kopf saß ein Helm. Rechts und links stachen zwei gebogene Hörner hervor.
Ja, das war Thor!
»Ich werde ihn bestrafen!« schrie der Donnergott. »Fenris gehört zu uns, nach Asgaard. Die Unterwelt hat kein Recht, ihn sich bei uns auszuleihen. Mit diesem Schlag meines Hammers habe ich die Magie dieses Fleckens aufgelöst.«
Das waren seine letzten Worte. Danach wallten wieder die grauen Schleier, und das Gesicht war nicht mehr zu erkennen.
Wenn mir jemand so etwas erzählt hätte, wahrlich, ich hätte es nicht geglaubt. So hatten wir es selbst erlebt, zusammen mit den Nonnen, die ratlos herumstanden, redeten, jedoch zu keinem Ergebnis kamen, weil sie einfach nicht wußten, wie sie das Phänomen erklären sollten.
Clarissa kam auf uns zu. Der Blick ihrer Augen war ernst. Auch las ich darin eine Frage.
Ich hob die Schultern. »Es tut mir leid, aber ich kann es nicht erklären.«
»Der Wolf existiert noch.«
»Ja.«
»Dann fahre ich mit Ihnen nach Avoca«, erklärte mir die Äbtissin.
»Kommen Sie, wir müssen uns beeilen. Diese Bestien sind gefährlich und die Menschen schutzlos.«
Da hatte die Äbtissin etwas Wahres gesagt. An ihre Nonnen und Mitschwestern dachte sie nicht mehr. Sie raffte den langen Saum ihrer Tracht hoch und rannte auf unseren Wagen zu.
Wir folgten ihr.
***
Zwei Wölfe – zwei Tote!
Farlane, Bürgermeister Gillan und der Lehrer Dell sahen dies zwar, aber sie konnten es kaum begreifen. Bisher war ihnen das wie ein Spaß vorgekommen, nun wurden sie direkt mit den Leichen ihrer Mitbürger konfrontiert.
Die Bestien hatten schrecklich gewütet.
»Schieß doch!« zischte Gillan. »Mach schon, Farlane!«
Der hünenhafte Mann zögerte. In seinem Gesicht arbeitete es. Er hatte zwar die Schrotflinte angelegt, aber es fehlte ihm plötzlich der Mut, abzudrücken.
Da sprang der Wolf.
Farlane und die anderen beiden Männer sahen, wie sich der graue Räuber in die Luft schraubte, wobei er sich kräftig abgestoßen hatte und auf Farlane zuflog.
Der schoß.
Fußlang stach die Mündungsflamme aus dem Lauf. Begleitet wurde sie von einem wahren Hagel aus Schrot, der mit ungeheurer Wucht in den Körper des Tieres hieb.
Es war ein Treffer, der normalerweise, und vor allen Dingen auf so kurze Distanz gefeuert, den Wolf hätte zerreißen müssen. Farlane bekam alles wie in Zeitlupe mit, während hinter ihm die beiden anderen Männer fluchtartig durch die Tür des kleinen Polizeigebäudes sprangen.
Die Bestie befand sich etwa in Höhe der Trennbarriere, als die Ladung in ihren Körper hieb. Sie zerhämmerte ihn fast, mußte ihn zerteilen, und Farlane wartete auf den Erfolg, als der Wolf ihn bereits ansprang.
Diesem Aufprall hatte auch der Hüne von Mann nichts entgegenzusetzen. Er kippte zurück, fiel gegen die Tür und drückte sie ins Schloß. Dieses schnappende Geräusch hörten auch der Lehrer und der Bürgermeister, die sich beide bis auf die Straße zurückgezogen hatten, um auch einen freien Fluchtweg zu haben.
Sie hörten den Schuß.
»Ha, jetzt hat er ihn erledigt!« keuchte Gillan der Bürgermeister, während sich Lehrer Dell zurückhielt, denn er war von einem Erfolg nicht so überzeugt.
Was weiter geschah, konnten die beiden Männer zwar sehen, aber sie mußten sich auch etwas hinzureimen.
Die Tür fiel zu.
Von innen hatte jemand dagegengetreten. Schatten flogen durch den Raum. Sie durchquerten dabei auch die Lichtinseln der Fenster, deshalb waren sie zu sehen.
Ein Schrei!
Gurgelnd und röchelnd ausgestoßen. Eine wilde, unkontrollierte Bewegung. Hochgerissene Arme warfen Schatten ins Rechteck des Fensters, der zweite Wolf sprang, ein dumpfer Aufprall, noch ein Schrei, dann ein schreckliches Geräusch, das den beiden Männern durch Mark und Bein schnitt, danach Stille.
Tödliche Stille…
»Mein Gott!« flüsterte der Bürgermeister. Er schlug hastig ein Kreuzzeichen. Neben ihm stand der Lehrer starr auf dem Fleck.
Bleich war er im Gesicht. Sämtliches Blut schien daraus gewichen zu sein. Das Messer hielt er in der Hand wie einen Fremdkörper. Er öffnete die Finger, und die Klinge fiel zu Boden. Weder er noch der Bürgermeister achteten darauf.
Dafür sahen sie etwas anderes.
Schatten!
Aber nicht im Innern eines Hauses, sondern auf der Straße. Ihre Form war länglich, und sie huschten nicht weit entfernt von einer Straßenseite auf
Weitere Kostenlose Bücher