0196 - Flucht vor den Riesenspinnen
Sonnenbrille verdeckte die Augenpartie, und sein Hut überschattete die Stirn. Auffällig war, daß der Mann Handschuhe trug.
Mit seltsam fließenden Bewegungen schwebte er auf den Hoteleingang zu. Er war nicht verschlossen, und der Hagere trat ein. Mit schnellen Schritten durchquerte er den Vorraum und stieg die Treppe hinauf. Um diese frühe Morgenstunde war die Rezeption nicht besetzt, aber auch das hätte don Blassen nicht aufgehalten.
Signor Sergio Riccone orientierte sich auf dem Korridor kurz. Es war, als lausche er in sich hinein, um einer inneren Stimme zu folgen. Dann durchquerte er den Korridor mit faschen Schritten und blieb vor einer Zimmertür stehen.
Er drückte auf die Klinke; die Tür war abgeschlossen.
Riccone griff in eine Innentasche seiner Jacke und holte einen dunklen Gegenstand hervor, den er in der hohlen Hand barg. Selbst wenn sich zufällig jemand auf dem Gang befunden hätte, hätte er diesen Gegenstand nicht sehen können.
Riccone preßte ihn gegen das Türschloß und verharrte drei, vier Sekunden. Dann schob er den Gegenstand in die Tasche zurück und stieß die Tür auf, die kein Schloß mehr besaß.
Riccone trat ein. Mit einer raschen Kopfdrehung sah er sich um und stellte fest, daß das Zimmer bewohnt, aber leer war. Das Fenster offen, die Betten benutzt. Knapp war sein Nicken, aber kein Muskel bewegte sich in seinem blassen Gesicht.
Er ging zum Schreibtisch. Vor dem lag eine mattschwarze Kugel auf dem Boden. Riccone hob sie auf und ging zum Fenster.
Dann kletterte er auf die Fensterbank und ließ sich vornüber kippen.
Er fiel nicht.
Die Gesetze der Schwerkraft schienen für ihn keinerlei Bedeutung zu besitzen. Gemessenen Schrittes bewegte er sich an der Hauswand dem Boden zu wie ein harmloser Spaziergänger, der über die Straße geht.
***
Frederic atmete erleichtert auf, als er Cathy stürzen sah - obwohl etwas in ihm dabei erschrak. Sie konnte sich verletzt haben…
Aber der klare Verstand überwog sofort wieder. Sie mußte in einer Ackerfurche gestolpert sein, und so konnte er doch noch aufholen. Mit raschen Sprüngen kam er jetzt auf sie zu, sorgfältig darauf achtend, nicht ebenfalls falsch aufzutreten oder hängenzubleiben. Während er sich näherte, richtete sie sich langsam wieder auf. Es mußte Zufall gewesen sein, daß sie stolperte.
Ermüdet wirkte sie nicht. Etwas Unheimliches war mit seiner Frau geschehen, das über sein Fassungsvermögen ging.
Als sie wieder auf den Beinen stand, hatte er sie erreicht, am Ende der Kräfte und kurzatmig. »Cathy!« japste er. »Bleib stehen!«
Sie blieb stehen. Starr sah sie ihn an, die Arme etwas ausgebreitet. In ihren Augen sah er den Widerschein der Sonne.
Aber diese Augen waren merkwürdig groß. So groß, wie er sie nie zuvor gesehen hatte, und dünne Rasterfäden überliefen sie.
Facettenaugen!
Und ihr Mund!
Auch die Mundpartie hatte sich verändert, und als sie ihn öffnete, sah er das veränderte Gebiß. Es waren keine Zähne mehr.
Es waren die Freßzangen eines Insekts.
»Cathy!«
Er glaubte zu träumen, aber sie stand da vor ihm, machte einen Schritt auf ihn zu und schlang die Arme um ihn. Ein schabendes Geräusch erklang. Chitin…
Und dann - biß sie jählings zu!
***
Sergio Riccone stoppte, als er rund einen Meter über dem Boden war. Es war ein bizarres Bild, geradeso wie das eines Astronauten, der mit den Magnetschuhen seines Raumanzugs quer am Raumschiff hängt. Genauso hing Riccone an der Hauswand.
Jetzt aber bog sich sein Körper zurück. Er mußte unglaublich gelenkig sein, denn plötzlich bildete er fast einen rechten Winkel. Der Oberkörper stand aufrecht, die Beine hafteten noch quer an der Wand. Selbst ein Zirkusartist wäre möglicherweise zerbrochen.
Dann machte er einen Schritt vor -und stand auf dem festen Boden.
Im nächsten Augenblick bewegte er sich zu ebener Erde völlig normal weiter.
Riccone ging um das Haus herum, erschien wieder an der Vorderfront und stieg in die Limousine ein, deren Motor leise weitergelaufen war, während der Blasse sich im Haus befunden hatte. Jetzt rollte der riesige Wagen an und verschwand mit hoher Beschleunigung irgendwo zwischen den Häusern.
Auf dem Rücksitz streckte sich Sergio Riccone gemütlich aus und legte die mattschwarze Kugel neben sich nieder. Er hatte erreicht, was er erreichen wollte, und sich dabei nicht einmal anstrengen müssen.
Nur wer genauer hingesehen hätte, hätte in diesem Moment sein eigenartiges Flimmern seines bleichen
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