02 - Aus Liebe zu meiner Tochter
islamischen Schule an, und dort wurden sie bald unruhig. Die Schule war für Amar und Farid eine Zumutung, denn sie sprachen kein Wort Arabisch. Einige Lehrer übersetzten zwar für sie, aber andere nahmen keine Rücksicht. Die Jungen hatten kein Interesse daran, eine neue Sprache zu lernen. Schließlich konnten sie jeden Tag abreisen, und dann würden sie wieder ihre Schule in Frankreich besuchen.
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Mittlerweile hatte Marie-Anne, die Mutter der Jungen, in der Pariser Vorstadt Massy Nachricht von Brahims Erkrankung und der verschobenen Rückkehr ihrer Söhne bekommen. Auch sie schöpfte bald Verdacht. In ihrer Ehe hatte es jahrelang gekriselt, nachdem Marie-Anne aus dem Geschäft, das sie gemeinsam mit Brahim geführt hatte, ausgeschieden war. Sie arbeitete zunächst in einem Büro, dann als Sekretärin in der Verwaltung. Brahim fühlte sich durch Ma-rie-Annes Unabhängigkeit bedroht; ihm war die Vorstellung zuwider, daß sie selbständig und außer Haus arbeitete. Als sein Geschäft von einer Supermarktkette aufgekauft wurde, fühlte er sich noch tiefer gedemütigt.
Oberflächlich betrachtet schien Brahim sich völlig assimiliert zu haben. Er und Marie-Anne waren in einer katholischen Kirche getraut worden, und später wurden ihre beiden Söhne dort getauft. Aber obwohl Brahim stets Französisch und nie Arabisch sprach und ständig Umgang mit gebürtigen Franzosen hatte, fühlte er sich benachteiligt und isoliert — genau wie Moody, der wiederholt von amerikanischen Ärzten schikaniert worden war. Brahim schimpfte deshalb immer mehr über das Land, das er 1962 zu seiner neuen Heimat erwählt hatte.
Frankreich sei ein »Mülleimer«. Wie Moody und Khalid Saieed glaubte er, die westliche Kultur verderbe die Kinder, und Amar und Farid würden einmal als Drogensüchtige und Straftäter enden. Brahim fürchtete, die Kontrolle über seine Söhne könnte ihm entgleiten, wie ihm bereits die Kontrolle über seine Frau entglitten war.
Vier Tage später erhielt Marie-Anne einen weiteren Brief: Brahim werde mit den Jungen in Algerien bleiben.
Zuerst wollte sie es nicht glauben; der Schlag traf sie völlig unvorbereitet. Ihre zweite Reaktion bestand darin, daß sie sich den Tatsachen verschloß. Brahim würde damit nicht durchkommen. Nach französischem Recht, so meinte sie, könne
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sie die sofortige Rückkehr ihrer Söhne einklagen, die doch Franzosen waren. Sie blieb auch dann noch bei ihrer Überzeugung, als sie bei einem Anruf im französischen Justizministerium weder ermutigt wurde noch eine ausführliche Auskunft erhielt, von dem Hinweis abgesehen, man werde von derartigen Fällen überschwemmt.
Marie-Anne war erstaunt; sie hatte noch nie von elterlichen Kindesentführungen gehört.
Anfang Oktober reiste Marie-Anne nach Algier, wo die französische Botschaft ein Treffen mit Brahim arrangiert hatte. Sie sei hingefahren, um mit ihm zu reden, erzählte sie, aber vor allem habe sie wissen wollen, was die Kinder von alledem hielten. Marie-Anne fuhr im Taxi zu Brahims Wohnung, aber sie mußte mehrere Stunden warten, ehe sie mit ihren Söhnen sprechen konnte, die sich im fast 200 Kilometer entfernten Haus ihrer Großmutter aufhielten.
Als Amar und Farid, die sich immer noch in Ferien wähnten, ihrer Mutter gegenüberstanden, waren sie aufgeregt und verängstigt zugleich. Weshalb war sie gekommen? War etwas Schlimmes geschehen?
Dann sahen sie ihre leidvolle Miene und begriffen schlagartig alles, noch ehe die Mutter ein Wort gesprochen hatte. »Euer Vater will, daß ihr für immer hierbleibt«, begann Marie-Anne.
»Aber Mama, wir wollen wieder nach Hause!« protestierte Amar. »Wir müssen doch in die Schule gehen!«
Marie-Anne beruhigte ihre Söhne, so gut sie konnte: »Ihr könnt noch nicht gleich mit, aber ich tue alles, damit ihr wieder nach Hause kommt.«
Die Zukunft sollte zeigen, daß die Mutter es mit diesem Versprechen sehr ernst meinte.
Die Jungen fragten Brahim, was denn eigentlich los sei. Warum wollte er sie hierbehalten? Welche Pläne hatte er? Amar, der gegenüber seinem Vater entschiedener (und lau-274
ter) auftrat, sagte: »Papa, wir wollen zurück nach Frankreich.«
»Sei still!« lautete die Antwort des Vaters. »Das habt nicht ihr zu entscheiden!« Seit ihrer Ankunft in Algerien ging Brahim schroffer und autoritärer mit seinen Söhnen um, und er war zunehmend verbittert über ihren Widerstand. Er war zu der Überzeugung gelangt, daß er das Richtige tat und daß es nur eine Frage der
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