02 - Aus Liebe zu meiner Tochter
Zeit war, bis sie seine Entscheidung verstehen und ihm dafür dankbar sein würden.
Aber Brahim hatte sich gründlich verrechnet. Die Jungen wurden von widersprüchlichen Gefühlen hin- und hergerissen. Sie fühlten sich schuldig, weil sie sich zunächst über die verlängerten Ferien gefreut und dadurch unwissentlich das Vorhaben ihres Vaters begünstigt hatten. Vor allem aber brannte in ihnen jetzt ein jugendlicher Haß auf Brahim. Er hatte sie belogen und unter einem heimtückischen Vorwand aus ihrem Heim, von ihren Freunden und ihren französischen Verwandten fortgelockt. Sogar in Gharda'ia hatte er sie weiter angelogen und eine Krankheit vorgeschützt, um die Stunde der Wahrheit hinauszuschieben.
Den Jungen entging nicht, daß die ganze Familie an dem Komplott beteiligt war. Seit ihrer Ankunft hatte man sie in der Verwandtschaft von einem Haus ins andere umziehen lassen. Bisher hatten sie das Zusammensein mit ihren Cousins genossen, nun jedoch wurde ihnen klar, daß alle Mitglieder der Familie zugleich ihre Wächter waren. Sie folgerten daraus, daß Brahim ihre Entführung wahrscheinlich bei einem früheren Besuch im April geplant hatte. »Warum kommt ihr nicht wieder?« hatten die Verwandten Brahim gedrängt. »Hier scheint immer die Sonne. Du hättest hier ein Haus und deine Jungen, und das Leben wäre einfacher.«
Amar und Farid waren um so niedergeschlagener, als
275
man sie gar nicht hatte überreden müssen, nach Algerien zu kommen. Sie waren ihrem Vater ja freiwillig und voller Begeisterung gefolgt.
Wie Inzest und sexueller Mißbrauch verletzt auch die elterliche Kindesentführung die Persönlichkeit des Kindes.
Amar und Farid hatten Vertrauen zu ihrem Vater. Mehr noch, sie idealisierten ihn, er war ihr Vorbild, dem sie nachstrebten. Dadurch, daß er sie einfach bei sich behalten hatte, ohne um ihr Einverständnis zu fragen, hatte er sie in ihrer aufkeimenden Männlichkeit, ja in ihrem ganzen Wesen verletzt.
Marie-Anne blieb noch zwei Wochen in Ghardaia. Sie erwog sogar, dorthin zu ziehen, um über ihre Söhne wachen zu können, doch bald verwarf sie den Gedanken wieder. In Algerien hätte sie zum Islam übertreten müssen. Brahim zeigte ihr, wo sie wohnen sollte - allein, getrennt von ihren Kindern. (»Die Kinder müssen sich erst an ihr neues Leben gewöhnen«, sagte ihr Mann.) Vor allem aber wußte sie, daß sie nach algerischem Gesetz keine Chance hatte, ihre Söhne wiederzubekommen. Dagegen glaubte sie immer noch, daß sie vor französischen Gerichten Erfolg haben würde.
Amar und Farid verabschiedeten sich unter Tränen von ihrer Mutter. Sie klammerten sich an die Hoffnung, daß sie bald wieder bei ihr in Frankreich sein würden, vielleicht schon im folgenden Monat. So begann die Zeit, in der sie für diesen einen Tag lebten und planten, den sie in nächster Zukunft erwarteten. Sie überlegten sich sogar, welche Andenken an Algerien sie nach Hause mitnehmen sollten.
Es dauerte eine Weile, bis Marie-Anne erkannte, daß weder Frankreich noch Algerien die Opfer internationaler elterlicher Kindesentführungen schützte und daß nur neue, von beiden Seiten anerkannte gesetzliche Regelungen diese unmögliche Situation beenden konnten.
276
Frankreich und Algerien sind nur durch das an dieser Stelle rund 650 Kilometer breite Mittelmeer getrennt und lediglich eine Flugstunde voneinander entfernt. Jahrhundertelang bestand zwischen beiden Kulturen eine leidenschaftliche, oft haßerfüllte Beziehung. Algerien, das der Islam einst zu großen Teilen erobert hatte, wurde zwischen 1834 und 1962 von Frankreich regiert, bis die Algerier den Kampf um die nationale Unabhängigkeit gewannen. Frankreich erlebte ein ähnliches Trauma wie die Vereinigten Staaten in Vietnam: einen langen, blutigen Krieg, der keinem klaren Ziel mehr diente. Bei Siegern wie Verlierern blieben Unbehagen und Groll zurück.
In den letzten Jahren hat Frankreich eine wachsende Zahl von Einwanderern aufgenommen. Der größte Teil davon sind 800000 Algerier. Man schätzt, daß diese überwiegend jungen Nordafrikaner zu 40 Prozent arbeitslos sind. Außerdem machen ihnen rassistische Politiker das Leben schwer, die den Haß auf Einwanderer schüren. Im Land herrscht auf beiden Seiten der kulturellen Kluft großes Mißtrauen.
Die Kluft ist besonders in Ehen zwischen algerischen Männern und französischen Frauen zu spüren. (Der umgekehrte Fall tritt nur selten auf, denn islamische Frauen dürfen keine Nicht-Moslems heiraten; tun sie es
Weitere Kostenlose Bücher