02 - Aus Liebe zu meiner Tochter
unterscheidet genau zwischen der US-Regierung und dem amerikanischen Volk. Die Menschen haben keine Vorurteile den Amerikanern gegenüber, und sie wollten mich überzeugen, daß die Iraker nicht unsere Feinde sind.«
»Die gegenwärtigen Sanktionen«, fügte sie hinzu, »bereiten Saddam Hussein keine einzige schlaflose Nacht, aber die Bevölkerung wird getroffen. Die Mittelschicht verarmt, die Armen verzweifeln. Mit allen geht es rapide abwärts, und sie wissen nicht, warum. Sie haben keine Stimme in der Regierung, und sie verdienen nicht, was man ihnen antut. Sie wollen ein normales Leben führen, aber die Sanktionen hindern sie daran. Ein Ende ihres Leidens ist nicht abzusehen, obwohl es nicht ihre Schuld ist.«
Am 31. August, einen Monat nach ihrer Rückkehr aus dem Irak, rief Mariann den Besitzer des Kleidergeschäfts neben Khalids Videoladen in Mosul an, und der Besitzer meldete sich. So einfach war das. Endlich konnte man aus dem Ausland wieder mit dem Irak telefonieren. Sekunden später sprach sie mit ihrem Mann. Die Unterhaltung drehte sich ausschließlich um technische Probleme. Khalid fragte 266
nach der von ihm beantragten US-Staatsbürgerschaft (die Prüfung hatte er bestanden, die Vereidigung vor seiner Abreise jedoch versäumt) und nach den Pässen der Kinder, mit denen alle drei leichter zurückkehren konnten.
Mariann erwiderte, daß sie in beiden Angelegenheiten beim Außenministerium angefragt habe. Nach zehn Minuten wurde das Gespräch unterbrochen.
Khalid konnte immer noch nicht nach Amerika anrufen, aber sie konnte mit ihm telefonieren und nach vorheriger Absprache auch mit den Kindern - zum erstenmal seit 14 Monaten, wann immer sie wollte. Ein Jahr zuvor wäre sie darüber noch glücklich gewesen. Nun war sie seltsam deprimiert.
»Jetzt muß ich mich zusammenreißen, daß ich nicht ständig anrufe. Ich könnte es jeden Tag tun, und selbst das wäre noch nicht genug. Aber es ist unverschämt teuer, ich kann es mir nur einmal im Monat leisten. Jetzt, wo ich weiß, daß ich jederzeit mit ihnen sprechen kann, denke ich die ganze Zeit an nichts anderes. Aber ich überstehe den Tag nur, wenn ich nicht an sie denke - und nun sind sie da, am anderen Ende der Leitung.«
Bevor die Verbindung unterbrochen wurde, wiederholte Khalid seine Einladung an Mariann, ihn von neuem zu besuchen, diesmal auf seine Kosten. »Aber ich will mir von ihm keine Bedingungen stellen lassen«, sagte Mariann, »denn dann kann ich nicht mehr selbst entscheiden, ob ich bleibe oder nicht.« Statt dessen hat sie angefangen, Geld zu sparen - in ihrem Fall eine langwierige, entmutigende Sache, da sie »hoch und auf ewig verschuldet« ist. Deshalb nahm sie Mitte September zwei Vollzeitjobs an: eine bezahlte Tätigkeit im VO W-Büro und eine Arbeit an der Kasse eines Videogeschäfts, das einem irakisch-amerikanischen Geschäftsmann gehört.
Die Zukunft ist ungewiß. Mariann hofft, Khalid und die
267
Kinder innerhalb des nächsten Jahres wiederzusehen - im Irak oder auf neutralem Boden in Jordanien oder Österreich. Vielleicht kommt Khalid sogar mit den Kindern in die Staaten, auf Besuch oder für immer. Er hat keinen genauen Termin genannt, und Mariann hat gelernt, sich keine allzu großen Hoffnungen zu machen.
In mancher Hinsicht ist ihr Leben heute schwieriger als vor der Reise. Es gibt Tage, an denen Schuld und Einsamkeit sie zu überwältigen drohen. »Ich habe immer noch viel mit Depressionen zu kämpfen«, sagt sie. »Er ist immer noch da, dieser Teil von mir, der sich am liebsten irgendwo verstecken würde, damit ich nicht zu tun brauche, was ich muß.«
Die Ereignisse des vergangenen Jahres haben Mariann jedoch widerstandsfähig gemacht, und sie läßt sich von den Depressionen nicht mehr lähmen. Wenn es ihr schlechtgeht, ruft sie sich ins Gedächtnis, was sie Adam und Adora in Mosul gesagt hat: Wenn das Schlimmste passiert und ich ohne euch abreisen muß, komme ich zurück und kämpfe um euch. Mommy liebt euch und wird euch immer lieben, und ich komme zurück.
Mariann wird zu ihrem Wort stehen, soviel ist sicher. Sie weiß auch, daß ihre Geschichte kein glückliches Ende haben kann. »Wie es auch weitergeht«, sagt sie, »ich werde bis zum Schluß mit dem leben müssen, was geschehen ist.«
268
Dritter Teil
Die Mütter von Algier
Als ich 1988 nach Europa kam und die Mütter von Algier kennenlernte, jene französischen Frauen, deren Kinder von den Vätern nach Algerien entführt worden waren, spürte ich
Weitere Kostenlose Bücher