02 - Aus Liebe zu meiner Tochter
zu spät gekommen war und zu lange gekämpft hatte, um jetzt ihr Kind zu verlieren. Plötzlich fühlte sie die ganze Last der Elternschaft auf sich ruhen, »wenn alles so extrem ist«, sagte sie zu mir, »wird man so stark und konzentriert sich so sehr auf das, was man tut,
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daß man seine Erschöpfung vergißt und überhaupt nichts mehr fühlt. Man tut nur, was man tun muß.«
Zwei Tage später war Adam über den Berg, und Christy verbrachte die letzten beiden Wochen in Pakistan an seinem Bett. Den Prozeß überließ sie Nasir. Er berichtete, die Familie gebe allmählich nach. Sie habe vorgeschlagen, Christy solle John mitnehmen und Adam dalassen, da er schon immer der Folgsamere gewesen sei. Dann kam Nasir mit seiner bislang besten Nachricht: Der Richter hatte ein Machtwort gesprochen. Er wollte der Familie keine weiteren Vertagungen zugestehen. »Das ist weder für die Kinder noch für die Mutter, noch für die anderen Beteiligten gut«, hatte er erklärt.
Daraufhin hatte Fiaz die Beherrschung verloren. »Was soll das heißen, nicht gut für die Mutter?« fragte er wütend. »Die Mutter ist unwichtig!«
Der Richter musterte ihn ernst. »Wenn die Mutter unwichtig ist, was soll dann der Antrag, der hier vor mir auf dem Tisch liegt?« Fiaz hatte einen kolossalen Fehler begangen: Seine Familie hatte bisher argumentiert, Christys Söhne sollten zu ihrem eigenen Wohl und zum Wohl ihrer Großmutter väterlicherseits, die nach dem Verlust ihres Sohnes Trost brauche, in Pakistan bleiben. Das war von Anfang an ein fadenscheiniges Argument gewesen, aber jetzt lag es in seiner ganzen Scheinheiligkeit offen.
Als Riaz' Verwandte sahen, daß sie verloren hatten und daß der Richter offenbar entschlossen war, Christy die Kinder zu überlassen, bemühten sie sich, die bestmöglichen Übergabebedingungen auszuhandeln. Die Anwälte arbeiteten mit Zustimmung des Gerichts eine Vereinbarung mit mehreren Bedingungen aus - darunter die, daß Christy, unter Androhung des Verlusts des Sorgerechts, nicht wieder heiraten durfte. Die Schlacht war geschlagen.
Christy und die Jungen quetschten sich auf den Rücksitz
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von Fiaz' Wagen, um sich zum Flughafen von Peshawar bringen zu lassen. Als Christys Schwager mürrisch den Motor anließ, sah ein vertrautes Gesicht durch das offene hintere Fenster. »Christy, du warst immer eine meiner Lieblingsnichten!« rief Onkel Hyatt, als der Wagen anfuhr. »Ich bin froh, daß alles ein gutes Ende genommen hat!«
Fünf Jahre zuvor waren Mahtab und ich auf dem Metropolitan Airport von Detroit dieselbe Gangway heruntergekommen - die Gangway in die Freiheit! Am 26. März 1991 stiegen Christy, Johnathan und Adam aus dem Flugzeug, und John sah Eric nach zwei Jahren zum erstenmal. Er hatte das Bedürfnis, sich ordnungsgemäß vorzustellen. »Hallo, ich bin Johnny, dein großer Bruder«, sagte er mit dem feierlichen Ernst eines Vierjährigen.
»Ich passe ab jetzt auf dich auf.« Endlich, dachte Christy, können sie alle aufeinander aufpassen.
Da sie über kein Einkommen und keine Ersparnisse verfügte, war sie zu ihren Eltern in einen überwiegend von Arbeitern bewohnten Vorort von Detroit gezogen, in dasselbe bescheidene Haus mit drei Schlafzimmern, in dem sie aufgewachsen war. Trotz der beengten Verhältnisse wird die Familie getragen von Liebe und gegenseitiger Dankbarkeit; nach der gemeinsam durchlebten Krise sind die Bande noch stärker geworden.
Obwohl John und Adam vier Monate nach ihrer Rückkehr immer noch labil waren, hatten sie bereits große Fortschritte gemacht. John wachte nachts nicht mehr keuchend und schweißgebadet auf, um Christy zu bitten, ihn nicht zu verlassen, und er träumte nicht mehr von Männern mit Gewehren. Adam verlangte nicht mehr nach seiner Flasche und machte nicht mehr ins Bett. Beide konnten jetzt zu Bett gehen, ohne daß sie ihre Spielsachen umklammern und Angst haben mußten, ihre Besitztümer und ihr neues, glückliche-153
res Leben könnten sich am nächsten Morgen in Luft auflö-
sen.
Da John zum Zeitpunkt der Entführung schon älter gewesen war, hatte sich der sensible, aufgeweckte und intelligente Junge einigermaßen an das Leben in Peshawar anpassen können. Adam dagegen wurde in der neuen Umgebung ein ganz anderes Kind, »eine hysterische, völlig neue Persönlichkeit«, wie es Christy ausdrückte.
Nach dem physischen und emotionalen Chaos des gespaltenen Familienlebens in Pakistan »kann er keine Unordnung mehr ertragen. Wenn seine Hände
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