02 - Aus Liebe zu meiner Tochter
Christy entschloß sich zu dem gleichen Auftreten, mit dem sie Riaz'
Familie in Schach gehalten hatte — respektvoll, aber nicht unterwürfig.
Angesichts einer Raumtemperatur von 27 Grad und dem Gedränge um sie herum war Christy unter dem obligatorischen Pullover und dem Tschador völlig naß geschwitzt. Sie hielt angestrengt Ausschau nach John und Adam und war bitter enttäuscht, als ihre Schwiegereltern den Gerichtssaal ohne die beiden Jungen betraten. Da Christy nicht mehr in das Dorf zurückkonnte, war dies ihre einzige Chance, die Kinder zu sehen. Der Richter vertagte die Verhandlung um eine Woche und wies die Familie an, die Jungen das nächste Mal mitzubringen.
Fiaz war wütend. »Glaub nicht, daß du eine Chance hast«, fauchte er Christy außerhalb des Gerichtssaals an.
»Ich könnte dafür sorgen, daß es so aussieht, als seist du einfach verschwunden.«
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Im Hotel rief Christy ihre Mutter an. »Ich habe solche Angst«, sagte sie. Lediglich das wachsende Vertrauen zu ihrem Anwalt, den sie anhand einer Liste des amerikanischen Konsulats ausgewählt hatte, ohne ihn zu kennen, machte ihr Mut. »Immer wieder erwies er sich als überaus rechtschaffener und aufrichtiger Mann, als Mann von unglaublicher Integrität«, erinnerte sie sich. »Ich glaube, der Segen Gottes ruhte auf mir. Ich hatte dauernd Glück, offenbar hatte Gott mir ein ganzes Heer von Engeln geschickt.«
Bei der zweiten Verhandlung zehn Tage nach ihrer Ankunft in Pakistan sah Christy ihre Söhne endlich wieder.
Als sie zusammen mit dem Anwalt der Familie den Gerichtssaal betraten, freute Christy sich darüber, wie gut sie aussahen, und war erstaunt, wie groß sie geworden waren. Sie sehnte sich danach, die beiden in die Arme zu schließen. Obwohl sie sich bemühte, Haltung zu bewahren, kam ein lauter Seufzer über ihre Lippen, und das Gemurmel im Gerichtssaal verstummte. Christy versuchte, die aufsteigenden Tränen hinter ihrem Tschador zu verbergen. Ich darf nicht weinen, sagte sie sich, und dann sah sie zum Richter hinüber. Sein Blick verriet aufrichtiges Mitgefühl.
Auf Nasirs Bitte hin unterbrach der Richter die Verhandlung, damit Christy und die Jungen sich in seinem Amtszimmer begrüßen konnten. Christys Schwiegervater begleitete die Kinder und tat sein Bestes, um einen guten Eindruck zu machen. »Ich möchte mich dir anschließen - du bist meine Tochter«, sagte er. Christy beachtete ihn nicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die beiden kleinen Jungen, die sie seit fünf Monaten nicht gesehen hatte. John lief ihr gleich in die Arme, aber Adam hielt sich zurück. Er will nicht zu mir, dachte Christy besorgt. Er will mich nicht. Sie setzte John hin und gab ihm ein kleines Spielzeug, das sie ihm mitgebracht hatte. Dann hielt sie auch Adam ein Spielzeug hin und betete, er möge reagieren. »Ich sah Adam an,
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und Adam sah das Spielzeug an«, erzählte Christy, »und dann streckte er einfach die Hände nach mir aus. Ich wollte ihm das Spielzeug geben, aber er stieß es weg. Von dem Moment an wollte er meinen Schoß gar nicht mehr verlassen.« Als es Zeit war zu gehen, mußte Christys Schwiegervater Adam regelrecht fortzerren.
Alles schien glatt über die Bühne zu gehen, aber dann trat erneut eine Krise ein. Anfang März zog sich Adam eine Hirnhautentzündung zu, eine infektiöse Erkrankung mit einer hohen Sterblichkeitsrate in Pakistan. Adam war von ihren drei Söhnen immer der kräftigste gewesen, aber jetzt erschien er Christy so wehrlos: mit Flecken übersät, einem krampfartigen Brechreiz ausgeliefert, der ganze Körper steif wie ein Brett.
Christy mußte sich um alles kümmern. Zuerst mußte sie dafür sorgen, daß Adam noch am Freitagabend im Krankenhaus aufgenommen wurde; die Ärzte dort haben an diesem Tag traditionsgemäß frei. Dann mußte sie ihm ein Einzelzimmer beschaffen, weit weg von den Typhus- und Tuberkulosekranken auf der allgemeinen Station. Und anschließend mußte sie noch das für die Behandlung entscheidende Penizillin auftreiben. Riaz'
Cousine Shabina, die ihr mit Eric geholfen hatte und die mittlerweile Kinderärztin war, hatte ihre Zweifel, ob Adam durchkommen würde.
»Er wird leben«, erklärte Christy mit intuitiver Gewiß-heit. Sie wurde durch die Tatsache ermutigt, daß Adam bereitwillig Flüssigkeit zu sich nahm. Die Flüssigkeit würde dafür sorgen, daß die Infektion aus seinem Körper geschwemmt wurde. Aber da war noch etwas anderes - die Überzeugung, daß sie schon
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