02 - Aus Liebe zu meiner Tochter
wird ohnehin nur noch einige Wochen dauern. Hab keine Angst, die Kinder sind in Sicherheit.« Mariann glaubte ihm nicht: Er erzählt mir, die Kinder seien sicher, dabei sind sie doch in einem Kriegsgebiet.
Khalid hatte ihr nicht mitgeteilt, daß Adam und Adora mit ungefähr 50 Verwandten für die Dauer des Krieges auf eine Farm außerhalb von Mosul umgezogen waren. 43 Tage lang gab es dort weder Strom noch fließendes Wasser, noch Kerosin zum Heizen - und das, obwohl die winterliche Temperatur auf etwa fünf Grad gefallen war.
Mariann saß wie gebannt vor ihrem kleinen japanischen Fernsehgerät und fühlte sich hilfloser denn je. Da die diplomatischen Beziehungen abgebrochen worden waren, konnte nicht einmal Joe Wilson etwas für sie tun. Er mußte zusammen mit den anderen Botschaftsangehörigen Bagdad verlassen. Mariann starrte auf den flimmernden Bildschirm und wartete. Sie schlief unruhig und nur wenige Stunden pro Nacht.
Als Mariann am frühen Abend des 16. Januar aufwachte und den Fernseher anschaltete, wurde sie von den Bildern und Geräuschen des ersten amerikanischen Bombenangriff auf Bagdad begrüßt. Sie ging zu ihrer Freundin Lee, und beide saßen den ganzen Abend vor dem Apparat. Danach versuchte Mariann immer, in der Nähe eines Fernsehers zu
sein.
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»Ich mußte mir alles ansehen, ich hatte keine andere Wahl. Wenn ich das nicht tat, spielte meine Phantasie verrückt, und ich dachte ständig an die Kinder und was ihnen Schreckliches passieren konnte.«
Auch der Kontakt zu Khalid war abgebrochen. Mariann beschloß, in der Zwischenzeit alle möglichen Informationen über den Irak zu sammeln. Sie mußte jedoch feststellen, daß sie dabei rasch an Grenzen stieß.
Obwohl in den Vororten von Detroit der arabisch-amerikanische Bevölkerungsanteil am größten in den USA war, gab es in der Stadtbücherei von Detroit keine nach der Machtergreifung Saddam Husseins geschriebenen Bücher über den Irak. Mariann kopierte eine detaillierte Landkarte und heftete sie an das Schwarze Brett in ihrem Schlafzimmer neben die Zeitungs- und Zeitschriftenartikel. »Ich hatte mir ein eigenes Informationszentrum eingerichtet«, sagte sie, »damit ich besser überblicken konnte, was passierte.«
Obwohl Mosul die drittgrößte Stadt des Irak ist, konnte Mariann kaum etwas über sie in Erfahrung bringen. Sie war besonders beunruhigt, als im Frühling in 80 Kilometer Entfernung von ihren Kindern die Kurdenaufstände ausbrachen. Eines Tages suchte sie wieder einmal sämtliche Fernsehkanäle durch und blieb bei einer Sendung hängen, die sich mit den in der Nähe von Mosul liegenden Ruinen von Ninive beschäftigte. Hier sah sie die ersten Bilder von Mosul: eine weitläufige Siedlung von niedrigen Zementhäusern am Tigris ohne erkennbare Stadtmitte. »Es sieht aus wie die Stadt einer primitiven Zivilisation des Altertums«, sagte sie zu Lee. Sie fühlte sich nun mehr mit ihren Kindern verbunden. Obwohl Mariann sie nicht sehen und nicht einmal mit ihnen sprechen konnte, vermochte sie sich jetzt wenigstens vorzustellen, wo die beiden lebten.
Was Mariann täglich durchmachte, war niederschmetternd. Als der Irak Scud-Raketen auf Israel abschoß, fürch-243
tete sie, Israel könne mit einem noch barbarischeren Gegenschlag auf die irakische Zivilbevölkerung antworten, was vielleicht sogar den dritten Weltkrieg auslösen würde. Auch an Adams neuntem Geburtstag, dem 30. Januar, regnete es Bomben. Am 24. Februar, Adoras Geburtstag, begann der Bodenkrieg.
»Das war mein wohl schlimmster Tag«, erinnerte sich Ma-riann. »Ich hatte keine Ahnung, ob die Kinder in Sicherheit und am Leben waren oder ob sie bombardiert wurden. Wie benommen fuhr ich durch die Stadt, um mich abzulenken. Ich weinte die ganze Zeit, auch nachts.«
Im März wohnte Mariann bereits ein halbes Jahr bei ihrem Bruder. Sie hatte keine Arbeit, keine Kinder und kein eigenes Zuhause. Dazu kam, daß sie ihrem Land entfremdet war, angewidert von den Fahnen und gelben Bändern. Obwohl keine Anhängerin von Saddam, stand sie »meiner Kinder wegen auf irakischer Seite. Ich war während des Krieges so furchtbar allein. Alle waren für den Krieg, doch ich dachte: Hoffentlich werden meine Kinder nicht von den amerikanischen Bomben getötet.«
Seit der Entführung war Marianns Leben eine einzige Folge von Krisen: zuerst die irakische Invasion, dann die Visumprobleme, die Geldsorgen, die Bomben, der Landkrieg, der Kurdenaufstand. Immer wenn CNN die Verwüstungen des Krieges
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