02 - Aus Liebe zu meiner Tochter
»Ich muß etwas tun. Ich kann nicht den ganzen Tag herumsitzen und auf Nachricht warten.« Als sie im Fernsehen einen Bericht über eine Detroiter irakisch-amerikani-sche Gruppe sah, die sich »Victims of War« (VOW) nannte und Geld für Nahrung und Medikamente sammelte, bot sie ihre Hilfe an.
Die Gruppe hatte zu wenig Mitarbeiter. Wie Mariann erfuhr, waren drei Mitglieder vor kurzem in den Irak aufgebrochen, um Lebensmittel und Briefe von Verwandten aus den USA zu verteilen. Man bat sie, im Büro Telefondienst zu machen.
Zuerst kam Mariann nur ein- oder zweimal wöchentlich vorbei, aber ab April nahm sie von montags bis freitags
-sieben Stunden täglich - Anrufe entgegen. Der Informationsbedarf war enorm, und es tat Mariann gut, im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen. Sie erhielt die neuesten Berichte über den Zustand im Irak. Die Arbeit hatte freilich auch ihre Schattenseiten. Die Mitarbeiter im Büro konnten zwar alle Englisch, sprachen untereinander aber Arabisch (oder Chaldäisch, den Dialekt irakischer Katholiken). Mariann fühlte sich ausgegrenzt. »Aber ich erinnerte mich an den Rat Bettys und Christys und zwang mich, jeden Morgen zu erscheinen.«
Nach einiger Zeit machte Mariann eine interessante Erfahrung: Trotz der Sprachbarriere entstand eine Art innerer Verbindung zu ihren Kollegen. Alle Mitarbeiter von VOW verurteilten Khalids Verhalten. Bald erkannte Mariann, daß sie und ihre Kollegen vieles gemeinsam hatten: notleidende Verwandte, das Entsetzen über die Folgen der Bombardierung und das Widerstreben, gegen den erst vor kurzem beendeten Krieg zu protestieren -
aus Angst, sie könnten deshalb als schlechtere Amerikaner gelten.
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Im Laufe der Wochen erwuchs aus der Zusammenarbeit gegenseitiges Vertrauen. Die Iraker erkannten, daß Mari-ann gegenüber ihrem Volk keine Feindschaft empfand, und akzeptierten sie als eine der Ihren. Mariann war ihrerseits bereit, auf sie zuzugehen, da sie nicht mehr jeden Iraker mit Khalid identifizierte.
Wala Kachaco, die auf derselben Etage für die Chaldean Federation arbeitete, gestand Mariann in einem Gespräch: »Wenn ich dir während des Krieges auf der Straße begegnet wäre und gesehen hätte, daß du Amerikanerin bist, hätte ich sofort die Straßenseite gewechselt.« Mariann sagte: »Vor dem Krieg ging es mir genauso mit den Arabern. Aber das ist jetzt vorbei, und wir sind alle gute Freunde geworden.«
Einer ihrer besten Freunde war der stellvertretende Vorsitzende der Gruppe, Shakir Al-Khafaji, ein ruhiger Architekt, der unermüdlich Reisen von VOW in den Irak organisierte. Im Mai erhielt Mariann einen im März aufgegebenen Brief von Khalid, in dem er schrieb, er und die Kinder hatten den Krieg gut überstanden. Damit gab sie sich jedoch nicht zufrieden. Mariann mußte bei ihren Kindern sein, und sie war darauf eingestellt, notfalls den Rest ihres Lebens im Irak zu verbringen. Sie bat Shakir, ihr bei der Einreise zu helfen. Shakir erklärte sich sofort dazu bereit: »Das mache ich, kein Problem!« Mariann wurde Mitglied einer Delegation, die im späten Juni abreisen sollte.
Ein Jurist aus dem Außenministerium gab sich alle Mühe, sie zu entmutigen: »Sie können doch jetzt nicht in den Irak reisen, Sie müssen verrückt sein. Wenn Sie wirklich hinkommen und wieder zurückkehren, fresse ich einen Besen.«
Daraufhin brach Mariann den Kontakt mit dem Außenministerium ab. »Ich konnte ihren Pessimismus nicht ertragen. Die Entscheidung für die Reise war mir ohnehin nicht leichtgefallen. Ich wußte ja nicht, ob Amerikaner dort Repressalien ausgesetzt sind und ob Khalid überhaupt noch 248
wollte, daß ich kam. Ich wußte nicht, ob man mich dort wie Betty festhalten würde, ich wußte nicht einmal, ob ich die Kinder Wiedersehen könnte. Wenn ich auf Pessimisten gehört hätte, wäre ich nie abgereist.«
Am 26. März kehrte Christy Khan in die USA zurück, nachdem ihr ein pakistanisches Gericht ihre beiden Söhne zugesprochen hatte. Es ist also doch möglich, dachte Mari-ann, egal, was die Juristen vom Außenministerium meinen.
Trotzdem mußte sie immer wieder gegen Angst und Un-gewißheit kämpfen. »In den Medien klang das wie ein Märchen: Eine Mutter liebt ihre Kinder so sehr, daß sie alles aufgibt, um im Irak zu leben. Aber so war es überhaupt nicht. Ich mußte in vielerlei Hinsicht erst dazu gedrängt werden, und ein erheblicher Druck kam auch von Seiten der Medien. Ich hatte gleich am Anfang gesagt, ich wolle in den Irak, und jetzt hatte
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