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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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gegenüber einem Arbeitgeber war in ihren Augen dumm und unwürdig. Zudem hatte das klassenbewusste Fräulein Mayer in Frankfurt starke Vorbehalte gegen Menschen entwickelt, die Weihnachten keinen Baum schmückten und bei denen ihre beiden Lieblingsgerichte – Rippchen mit Kraut oder Selchfleisch mit Speckkartoffeln – nie auf den Teller kamen. Die Siebzehnjährige war allerdings gegen ihren Willen nach Frankfurt verfrachtet worden. Sowohl Doktor Feuereisen, der sich regelmäßig nach Gustels Wohlergehen erkundigte, als auch seine Gattin missfielen ihr, obwohl die für das Frühjahr ein Kindermädchen zu Gustels Entlastung in Aussicht gestellt hatten. Selbst Fanny, die auf der Straße fremden Frauen Jubelrufe entlockte, war nicht nach ihrem Geschmack. »Richtig fad ist die«, erzählte sie einem Kindermädchen von der Böttgerstraße, das sie regelmäßig im Günthersburgpark traf.
    Gustel, die Tochter eines Schreiners in Friedberg, wäre gern Friseuse geworden wie zwei ihrer Mitschülerinnen, doch die Eltern entschieden, es gehöre sich nicht »für ein Mädchen aus einer ordentlichen Handwerkerfamilie, im dreckigen Haar anderer Leute herumzuwühlen«, wohingegen die Tochter nach dem Dafürhalten von Vater und Mutter »bei feinen Leuten etwas fürs Leben lernen« könne. In Frankfurt war Gustel durchgehend unglücklich. Der Verkehr und die weiten Wege, die in der Stadt nötig waren, um zum Ziel und dann wieder zurück zu gelangen, ängstigten sie; sie konnte sich nicht merken, wie sie an ihren freien Nachmittagen zur Hauptwache oder an den Main kam, und nur mit viel Mühe fand sie wieder zurück in die Günthersburgallee. »Die Stadtleut’ sind ganz grässlich und schrecklich eingebildet«, wusste Gustel zu berichten, wenn sie nach Hause fuhr. Sie verargte es den Frankfurtern, dass sie sich anders anzogen, dass sie anders dachten, anders aßen und anders redeten als die Menschen in Friedberg. Dass sie Fanny nur wegen eines winzigen Flecks auf dem Kleid hatte umziehen müssen, empfand Gustel als typisch für die hochnäsigen Großstädter. »So einen winzigen Fleck hätte keiner von denen hier gesehen«, murrte sie dem Kind ins Ohr.
    Die aufmüpfige Maid irrte gründlich. Außer den beiden jüngsten hatten sämtliche weibliche Gäste, die eingeladen waren, von ihren Müttern die Gewohnheit übernommen, prüfend in jede Ecke zu spähen. Ein gestörtes Verhältnis zu den traditionellen deutschen Hausfrauentugenden hatten vorerst nur Fannys siebzehnjährige Tante Alice und Cousine Claudette. Alice war nur unter Androhungen von Zwangsmaßnahmen bereit, morgens ihr Bett zu machen und ihre Leibwäsche selbst zu stopfen. Die vierzehnjährige Claudette fasste aus freien Stücken kein Staubtuch an und verfluchte jeden Teller, den sie abtrocknen sollte. Claudettes Gedanken kreisten ausschließlich um Fanny, die für sie das Familienglück verkörperte, das ihr nicht beschieden war, und – seit einem halben Jahr – um ihren Hund Snipper. Zwischen Fanny und Snipper gab es eine direkte Verbindung.
    Claudettes stets verständnisvoller Onkel hatte sie geschaffen. Erwin hatte seit drei Jahren einen befristeten Lehrauftrag an der renommierten Frankfurter Städelschule, wohnte in der Mansarde über der Wohnung seiner Zwillingsschwester und war zu Claudettes Geburtstag mit einem zehn Wochen alten Foxterrier angerückt, denn Erwin war als Einzigem in der Familie aufgegangen, dass seine immer vergnügte Nichte, dieser Ausbund an Heiterkeit und Ausgelassenheit, nach Fannys Ankunft grüblerisch und schwermütig geworden war. »Bei Frauen«, erklärte er seiner Schwester, »ist das beste Mittel gegen Traurigkeit eine neue Frisur, ein neuer Mann oder ein Hund.«
    Snipper sah dem Hund, der für die Schallplattenfirma »His Master’s Voice« Reklame machte, zum Verwechseln ähnlich – die gleiche schiefe Kopfhaltung, der gleiche treuherzige Blick, die gleichen Locken im weißen Fell. Bei den gemeinsamen Spaziergängen sorgte der Hundecharmeur dafür, dass Claudette nie länger als fünf Minuten ohne Ansprache war. So hatte sie einen weit größeren Bekanntenkreis als die anderen Kinder, die die ehrenwerte Gesellschaft für die vermeintlichen Verfehlungen ihrer Mütter büßen ließ.
    Lange vor der Mittagszeit war die Wohnung der jungen Feuereisens so belebt, als hätten sie zu einer Doppelhochzeit geladen. Es lockte nicht allein das Ziel, es lockte auch der Sonntagsspaziergang in einer vom milden Klima gesegneten Stadt. Der Frühling

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