02 Die Kinder der Rothschildallee
hatte das Wetter überholt. Krokusse und Forsythien blühten um die Wette. Die Buben trugen kurze Hosen und Kniestrümpfe, fuhren Rollerrennen und sahen alle aus, als gehöre ihnen die Welt. Auf dem Spielplatz in der Günthersburgallee wurden zum ersten Mal im Jahr Löcher für die Klicker gegraben. Ein alter Herr lehnte sich aus Victorias romantischem Turmfenster und seufzte, und auch die jungen Männer dachten an die Zeit der Bubenspiele.
Sämtliche Mitglieder der Familie Sternberg und die meisten Feuereisens hatten sich angekündigt, um Fanny und ihre stolzen Eltern zu ehren. Das Geburtstagskind hatte freilich noch keinen Sinn für das Außergewöhnliche. Es hatte noch nicht einmal die mit Wachsblumen verzierte rosa Kerze in einem bemalten Holzrahmen registriert. Auch für die Anwesenheit des Vaters hatte die Kleine nicht mit einem Lächeln gedankt, obwohl der verliebte Papa beim Frühstück dem neuen Xylophon wunderbar wunderliche Töne entlockt und später in seinem imponierenden Bass »Hoch soll sie leben!« und »Dies Bildnis ist bezaubernd schön« gesungen hatte.
»Das ist Papa«, sagte die Mutter, denn sie war in Geberlaune.
»Das ist Mama«, revanchierte sich der großzügige Vater.
Das Kind sah stumm auf Tisch und Eltern, doch es klatschte in die Hände. »Die wird einmal so theaterbegeistert wie ich«, weissagte die Mutter.
»Hoffentlich nicht«, befand der Vater, dem die Großzügigkeit für einen Augenblick abhandengekommen war. »Phantasie gibt nur Kummer.«
An Wochentagen verließ Doktor Friedrich Feuereisen schon um halb acht das Haus. Bei jedem Wetter und mit einem forschen Schritt, der bei den Hausfrauen in der Allee, die um diese Zeit ihr Bettzeug zum Lüften auslegten, immer wieder für Aufmerksamkeit sorgte, lief er in seine Kanzlei in der Biebergasse. Exakt zweiundzwanzig Minuten nach Verlassen seiner Wohnung aß er an seinem Schreibtisch ein mit Edamer Käse belegtes Brötchen. Bis zu Fannys Geburt hatte es ihm Victoria persönlich eingepackt – meistens zusammen mit einem Zettel, auf den sie ein kleines Herz gezeichnet hatte und auf dem zu lesen war »Ich liebe dich«.
Gestattete es sein gewaltiges Arbeitspensum, gönnte sich der junge Anwalt um elf Uhr ein zweites Frühstück im Café Bauer in der Schillerstraße – dies nicht nur, weil er ein Spiegelei auf Pumpernickel an einem Wochentag als ein Stück vom wahren Männerhimmel empfand. Dass unter den unzähligen Zeitungen, die im Bauer auslagen, immer das »Israelitische Familienblatt« zu finden war, war ihm noch wichtiger. Bei Doktor Feuereisen hatte sich, schon wegen der vielen Diskussionen, die er mit seinem Schwager Erwin führte, ein ständig wachsendes Bedürfnis entwickelt, sich über die Verhältnisse in der Weimarer Republik aus jüdischer Sicht zu informieren. Beide Schwager waren sich einig, dass die Zeit wenig Anlass zu Optimismus gab.
Victoria sah es gern, dass ihr Fritz außer Haus frühstückte. Sie fand das praktisch und rücksichtsvoll und war froh, dass sie ihrem Mann nicht weiszumachen brauchte, sie wäre morgens um sieben lebensfroh und aktiv. Es tat ihr gut, sich für die Morgentoilette und ihre Träumereien so viel Zeit zu lassen wie in den unbeschwerten Tagen im Elternhaus. Zudem schaute Fritz, der sich schon im ersten Ehejahr als längst nicht so unkonventionell und lässig entpuppt hatte, wie sich Victoria einen Mann von Welt vorstellte, dann nicht mit indignierter Miene auf die Uhr, wenn seine junge Frau mit ihrer Schwester Clara telefonierte.
Obgleich die beiden Schwestern noch keine fünfhundert Meter voneinander entfernt wohnten, sich mehrmals in der Woche in der Rothschildallee trafen und nachmittags öfters zusammen ins Kino gingen, telefonierten sie jeden Morgen um Schlag neun Uhr miteinander. Sie plapperten wie junge Mädchen, kicherten wie Backfische und konnten nie ein Ende finden. Gerade weil ihr Leben so früh aus dem Lot geraten war, schätzte Clara die kleinen Alltagsrituale, die sie vergessen ließen, dass ihr Lebensschiff schon vor dem Stapellauf gekentert war; Victoria tat die Nüchternheit der Schwester gut. Clara hatte schnell erkannt, dass Victoria wohl nicht allein der Liebe wegen geheiratet hatte. »Lebensangst hat sie unter die Chupe* getrieben«, hatte Clara an Victorias Hochzeitstag zu ihrem Bruder gesagt.
* Hochzeitsbaldachin aus weißer Seide, der bei jüdischen Trauungen benutzt wird.
»Unsere Vicky war immer eine, die sich schnell ins Bockshorn jagen ließ.«
»Seit wann
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