02 Die Kinder der Rothschildallee
Schwiegermutter fand es einen äußerst sympathischen – und seltenen – Zug, dass die Frau ihres Sohnes sich allenfalls beim Metzger und Milchmann, bei Terminabsprachen mit Ärzten und der Schneiderin mit Fritzens Doktortitel schmückte, nie aber im privaten Kreis. Das taten ja die meisten Frauen, die mit Juristen und Ärzten verheiratet waren. »Ein bisschen«, hatte Witwe Feuereisen im vorigen Sommer beim dritten Glas Erdbeerbowle ihrer Schwiegertochter geniert gestanden, »habe ich mir ja manchmal auch gewünscht, ich hätte einen Mann mit Doktortitel geheiratet.«
Es war nicht die von der Konvention gebotene freundliche Wertschätzung, die das Verhältnis zwischen Victoria und ihrer Schwiegermutter bestimmte, es war von Anfang an Zuneigung. Aus der wurde noch vor der Geburt der kleinen Fanny eine Freundschaft, die ohne Mühe den Graben überwand, der gemeinhin die Generationen trennt. Bei der Geburtstagsfeier, zwischen Rehmedaillons und Zitronentartes, flüsterte eine betagte Cousine der alten Frau Feuereisen wehmütig ins Ohr: »Man könnte glauben, du hättest schon immer hier zur Familie gehört.«
»Hab ich ja auch. Immerhin habe ich ja vor zweiunddreißig Jahren den Vater dieses Goldkindes geboren.«
Das Goldkind saß daumenlutschend und recht ermattet von der allseitigen Zuwendung auf dem weichen Schoß ihrer väterlichen Großmutter. Die Verwandten Feuereisen registrierten dies mit Genugtuung. Gleich vier Großtanten des Kindes würden der auswärtigen Verwandtschaft noch am gleichen Abend per Briefpostkarte mitteilen, wie sehr die Sternbergs eine der Ihren geehrt hätten. Allerdings machte sich kaum einer der Anwesenden klar, dass bei Frau Betsy nach fünf eigenen Kindern und zwei Enkeltöchtern, die Urfreude, die Frauen an Babys haben, stark nachzulassen begann.
Fannys Wortschatz bestand vorerst nur aus einer Silbenfolge, die mit der Phantasie, die nur Eltern gegeben ist, als »Wauwau« zu deuten war, und aus dem unverkennbaren »Nein«, das selbst die liebenswürdigsten Krabbelkinder dem unkomplizierten »Ja« vorzuziehen belieben. Victorias putzige Tochter würde noch lange nicht in der Lage sein, ihre beiden Großmütter auf die übliche, ein wenig umständliche Frankfurter Art zu unterscheiden – als »Oma Rothschildallee« und »Oma Beethovenstraße«.
Friedrich Feuereisen hatte sich bereits als Primaner ausgemalt, er würde, wenn verheiratet, im Westend wohnen. Im Westend war er aufgewachsen und zur Schule gegangen. In der Beethovenstraße hatte er mit einem Papierhelm auf dem Kopf Krieg gespielt und Fahrrad fahren gelernt, das beste Abitur seiner Klasse gemacht und den Tod seiner ersten Liebe erlebt. Er hatte, ein deutscher Patriot von vierzehn Jahren, vor seinem Elternhaus gestanden und die Soldaten jubelnd in den Krieg ziehen sehen; am 9. November 1918 hatte er sich für seinen Kaiser geschämt, denn die jubelnden Soldaten waren gefallen und Deutschland hatte den Krieg verloren.
Bis zum Tage seiner Hochzeit hatte der vielversprechende junge Anwalt Doktor Friedrich Feuereisen in dem Haus gewohnt, das sein Vater im Jahr 1900 gekauft hatte. Nun lebte seine Mutter allein dort. Im Parterre hatte sie eine Fünfzimmerwohnung und, seit dem Auszug ihres Sohns, zwei Zimmer an eine ältliche Deutschlehrerin untervermietet, die in der Dämmerung Monologe aus dem »Faust« deklamierte und ihre Wirtin sonntags mit frommen Liedern aus dem Schlaf riss.
Im Westend mit seinen repräsentativen, häufig weiß gestrichenen Patrizierhäusern, hatte das Wort Kultur einen eigenen Klang. Die unauffällige Eleganz und die Noblesse der wohlhabenden Bewohner hatten das Viertel zur feinsten Gegend der Stadt gemacht. Jedes Haus stand für Bürgerstolz und Strebsamkeit, für Geschmack und Wohlhabenheit. Kunstvoll geschmiedete schwarze Gittertore schützten die schönen Vorgärten. Marmorputten standen an den Zierbrunnen, im Mai entströmten betäubende Duftwolken den Fliederbäumen. Die Türbeschläge aus Messing waren spiegelblank geputzt, so mancher Treppenaufgang war aus Marmor und mit einem seidigen Seil ausgestattet, das nach oben führte. Die Menschen passten zu den Häusern – die Männer vornehm, die Frauen fein herausgeputzt und die Dienstmädchen in ihren weißen Schürzen so adrett und jugendschön wie sonst nur auf der Bühne. Die Bubenspiele im Westend waren weniger rau als in anderen Stadtteilen. Man sagte, Kinder, die im Westend aufwuchsen, wären wohlerzogener als andere, sie lernten mehr in der
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