02 Die Kinder der Rothschildallee
ist ein vielversprechender Junganwalt auf der Leiter nach oben ein Fall von Bockshorn?«
Clara stellte keine provozierenden Fragen, sie war direkt, ohne zu verletzen. »Lass die Leute doch lästern, du hättest Knall auf Fall geheiratet«, sagte sie, wenn Vicky sich über die Kleinbürger mit der gehässigen Zunge beschwerte, »die Hauptsache ist doch, dass es bei dir nicht geknallt hat. Nicht so wie bei deiner sündigen Schwester.«
»Ich hab’ sowieso nie begriffen, weshalb die Leute so gern tratschen. Ich werd’ mich auch nie damit abfinden können, dass sie es tun.«
»Wahrscheinlich sind wir Sternbergs fürs Leben verdorben. Unsere Mutter ist ja eine Meisterschweigerin. Siehe Anna.«
Auch Victorias Schwiegermutter ließ ihrer Zunge keinen Auslauf. Keine Frage, kein Wort der Verwunderung waren ihr über die Lippen gekommen, als ihr Sohn, der morgens eine Viertelstunde brauchte, um sich zwischen zwei Oberhemden von gleicher Farbschattierung zu entscheiden, das Aufgebot für die Ehe mit einer Frau bestellte, die er knapp vier Wochen kannte. Fritzens Mutter genügte es zu wissen, dass die kleine Fanny elf Monate nach der Hochzeit geboren wurde und die Ehe ihrer Eltern somit einem freiwilligen Entschluss entsprungen und kein Kotau vor der herrschenden Moral war.
Die Witwe Feuereisen, im selben Jahr geboren wie Johann Isidor Sternberg, den sie rasch als einen Mann von Redlichkeit und Ehre schätzen lernte, war klug und diplomatisch. Obgleich sie nur einen einzigen Sohn hatte und der sowohl im Aussehen als auch im Charakter ihrem früh verstorbenen, von ihr vergötterten Mann glich, entsprach sie in nichts dem gängigen Klischee der jiddischen Mamme. Sie hielt ihren Sohn nicht für die Krone der Schöpfung, für den nur die eigene Mutter zu sorgen imstande war. Im Gegenteil: Mutter Feuereisen fand, ihr Fritz hätte enormes Glück gehabt, eine Frau wie Victoria Sternberg zu finden; wenn sie Gelegenheit hatte, sagte sie es ihm auch. Sogar in Gegenwart seiner Frau, was ihn allerdings bei aller Sohnesliebe enorm störte.
Wilhelmine Feuereisen, mit der Aufgeschlossenheit ihrer Geburtsstadt Hamburg gesegnet und nach vierzig Jahren noch mit dem Zungenschlag behaftet, der die Frankfurter zusammenzucken ließ, als hätte sie der Blitz getroffen, war die Witwe eines Kaufmanns von Reputation und mit Weitblick. Sein ansehnliches Vermögen verdankte Salomon Joseph Feuereisen dem Umstand, dass er rechtzeitig begriffen hatte, welche enormen wirtschaftlichen Möglichkeiten der Fahrradhandel zu einer Zeit bot, in der es die Menschen aller Gesellschaftsschichten zur Mobilität drängte. Noch Jahre nach seinem Tod erinnerte sich Salomons Witwe, wie ihr Mann sonntags am Tisch gesessen und sich an dem delikaten Bürgermeisterstück erfreut hatte, das er besonders gern mit frisch geriebenem Meerrettich und Brühkartoffeln aß. »Das alles, meine liebe Familie«, hatte der genussfreudige Patriarch Frau und Sohn verkündet, »verdanken wir dem Damenfahrrad. Die Frauen sind ja heutzutage genauso meschugge wie die Männer. Hauptsache, sie müssen nicht mehr zu Fuß gehen und können auf eine Klingel drücken.«
Seine Witwe war schon als junge Frau eine von Format gewesen, doch im Alter nahm sich ihre Stattlichkeit weit vorteilhafter aus als in ihrer Jugend. Ihre zweiundsiebzig Jahre sah man ihr nicht an, sie kleidete sich mit Geschmack, ließ sich jeden Freitag Wasserwellen legen, legte Wert auf gepflegte Hände und schöne Schuhe, scheute das Auffällige und verachtete Protz. »Wer beneidet wird, hat noch nichts Großes getan«, erklärte sie ihrer besten Freundin, einer Juweliersgattin, die schon morgens mit einem dreireihigen Perlencollier und einem Ring von Cartier aus dem Haus ging.
Gerade weil es Wilhelmine Feuereisen an dem Quäntchen Glück mangelte, das eine Frau braucht, um wenigstens als apart zu gelten, hatte sie einen ausgeprägten Sinn für weibliche Schönheit, und ihre Schwiegertochter hielt sie für außergewöhnlich schön und außergewöhnlich liebenswert. Außergewöhnlich in Anbetracht der schweren wirtschaftlichen Zeiten war ja auch deren Mitgift gewesen – im Bekanntenkreis der Frau Feuereisen senior war noch zwei Jahre nach der Hochzeit mit geziemender Verwunderung die Rede davon, dass Johann Isidor Sternberg mit dem allerorten gerühmten goldenen Händchen es bei der Verheiratung seiner Tochter so gar nicht mit dem Sprichwort »Schönheit ist die beste Mitgift« gehalten hatte.
Die viel beneidete
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