02 Die Kinder der Rothschildallee
Schule und brächten es weiter.
Doktor Friedrich Feuereisen – wahrhaftig einer, der Arroganz und Großtuerei verabscheute – dachte ebenso. Das Frankfurter Westend würde ihm immer Herzensheimat bleiben, die Bilder aus seiner Kindheit und Jugend sollten ihn ein Leben lang wehmütig stimmen. An der Hand des Vaters war der Knabe im Matrosenanzug an den jüdischen Feiertagen in den wuchtigen Kuppelbau der Synagoge gegangen. Dort war der Achtjährige vom exotischen Flair der farbprunkenden Säulen und dem Löwenbrunnen im Zierhof verzaubert worden. Lange war Friedrich Feuereisen überhaupt nicht bewusst gewesen, dass seine Heimatstadt, von der er in der Schule lernte, sie hätte von allen deutschen Städten die schönsten Fachwerkhäuser und die liberalsten Bürger, noch andere Stadtteile als das repräsentative Westend mit seinen gut betuchten Bewohnern hatte. Bornheim galt bei seinen Eltern als »ziemlich gewöhnlich«, Bockenheim als »recht kleinbürgerlich«. Als Fünfzehnjähriger sah er zum ersten Mal die Friedberger Warte, erst als Student lernte er die südliche Seite des Mains schätzen – Sachsenhausen mit den volkstümlichen Wirtschaften und verwinkelten Gassen, dem deftigen Essen und den Menschen, die zu essen, zu trinken und zu leben verstanden.
Noch am Tag seiner Verlobung hatte Doktor Feuereisen gesagt: »Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, anderswo als im Westend zu leben.« Bedauerlich für ihn war der Umstand, dass seine junge Braut just an jenem glücklichen Tag annähernd das Gleiche sagte. Nur sprach sie von dem Stadtteil, in dem sie aufgewachsen war. Als der Unschuldsengel seine Zukunft entwarf, hatte er so rührend jung ausgesehen und war so strahlend schön gewesen, dass des Bräutigams Herz wie eine Trommel geschlagen hatte. Ehe das letzte Glas vom Verlobungssekt getrunken war, hatte er einmal zu viel in Victorias Sternenaugen geschaut. Galant gewährte er ihr die erste Bitte, die sie an ihn richtete. Vier Wochen später unterschrieb Doktor Friedrich Feuereisen den Mietvertrag für die Sechszimmerwohnung in der Günthersburgallee. Sowohl seine Mutter als auch sein Schwiegervater meinten, sie wäre wohl ein wenig zu groß für ein junges Paar ohne Kinder, doch beide waren sie der Meinung, die Jugend müsse das Recht haben, ihre eigenen Fehler zu machen.
Die jungen Feuereisens verbrachten ihre erste gemeinsame Nacht nicht in der Günthersburgallee – die Wohnung, obwohl in tadellosem Zustand, sollte auf Wunsch der jungen Ehefrau von Grund auf renoviert werden; die Kosten hatte der Schwiegervater übernommen, die Beaufsichtigung der Handwerker die Schwiegermutter. Beide nahmen sie – unabhängig voneinander – den jungen Ehemann zur Seite und empfahlen ihm, Victoria mit fester Hand in ihren neuen Lebensabschnitt zu führen.
»Sie ist noch sehr jung«, sagte Frau Betsy.
»Sie ist, wenn man sie nicht bremst, ein verschwenderisches kleines Luder«, sagte Johann Isidor. Da war es allerdings zu spät für väterliche Ratschläge. Frau Victoria Feuereisen hatte in sämtlichen Räumen außer Küche und Bad Parkett durchgesetzt, obwohl in ihrem Elternhaus das nur in den Salons Usus war. In beiden Toiletten – schon das ein Luxus! – gab es kleine Handwaschbecken, im geräumigen Badezimmer außer Wanne und Becken ein Bidet mit eigenem Handtuchhalter und einer kleinen Seifenschale, die einer Muschel nachgebildet war. Josepha hielt den französischen Import für eine Kinderbadewanne, Frau Betsy fand ihn »vollkommen unpassend« und »unmoralisch«.
»Ich dachte, so etwas gibt es nur in französischen Puffs«, klagte sie bei ihrem Mann.
»Ich hab keine Ahnung, wie es in einem französischen Puff aussieht«, schwindelte der Filou.
Auf Hochzeitsreise fuhren Fritz und Vicky, wie es sich für eine Braut mit romantischen Träumen und einen Bräutigam mit Empfinden für Stil ziemte, nach Venedig. Auf Empfehlung von Fritzens ehemaligem Seniorpartner, der zur Hochzeit mit einem Goldmedaillon für die Braut anreiste, auf dem »Amor vincit omnia« eingraviert war, und der als Genießer galt, unterbrachen sie die Reise in Brixen, um in dem traditionsreichen Hotel Elephant zu übernachten. Die geschichtsträchtige Südtiroler Bischofsstadt war nach dem Krieg italienisch geworden, der Koch hatte hingegen seinen österreichischen Gaumen behalten dürfen. Victoria meinte, das Nachtessen sei ein Erlebnis; bei jedem Gang schnalzte sie mit der Zunge. Fritz schwärmte mit. Ungewohnt schwülstig verkündete
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