02 - Die ungleichen Schwestern
bescheinigt.«
Jane
legte die Stirn in Falten. »Hatte sie einen Verehrer?«
»Ihre
Eltern wollten, dass sie einen gewissen Mr. Bullfinch heiratete. Mr. Bullfinch
ist ungewöhnlich reich.«
»Hat
sie ihn geliebt?«
»Darüber
habe ich nie nachgedacht«, sagte Rainbird. »Vornehme Damen heiraten selten aus
Liebe. Ihre Eltern hielten ihn für eine gute Partie.«
»Hat
Mr. Bullfinch nach ihrem Tod eine andere geheiratet?«
»Nein.
Er war vor Trauer völlig gebrochen.«
»Könnte
er auch von einem schlechten Gewissen gepeinigt gewesen sein?«
»Mr.
Bullfinch ist ein sehr ehrenwerter Gentleman», wies Rainbird ihre Mutmaßungen
zurück. »Ich habe gehört, dass er zum ersten Mal seit Miss Claras Tod wieder in
London ist. Sie werden ihn zweifellos kennenlernen.«
»Sieht
er gut aus?«
»Miss
Jane«, sagte Rainbird mit einem milden Lächeln, »Sie sollten sich nicht hier
unten aufhalten. Sie werden mich bei Mrs. Hart in schlechten Ruf bringen.«
»Das
heißt, dass Sie wollen, dass ich gehe.« Jane erhob sich mit einem Seufzer.
»Böser Mr. Rainbird! Sie sollten bei Mrs. Hart wirklich schlecht angeschrieben
sein, weil Sie alle ihre Gäste betrunken gemacht haben.«
»Ich?«
Rainbird riß seine Augen so weit wie möglich auf. Er nahm fünf Orangen aus
einer Schale auf dem Tisch und begann, mit ihnen zu jonglieren. Jane lachte und
klatschte, als Rainbird aufstand und sie, immer noch jonglierend,
hinausgeleitete.
Jane
rannte leichtfüßig die Stufen zu ihrem Zimmer hinauf. Schon allein die
Vorstellung von einer Fahrt durch London war aufregend, zumal sie bisher kaum
etwas von der Stadt gesehen hatte.
Ihr
Schlafzimmer lag zur Straße hinaus, da Euphemia das größere, ruhigere Zimmer
nach hinten hinaus bevorzugt hatte. Sie hörte Lärm von unten und trat ans
Fenster. Eine Akrobatengruppe führte etwas vor. Es waren zwei Männer in
schmutzigen rosa Trikothosen und ein Mädchen in einem glitzernden Flitterkleid.
Jane beobachtete sie müßig, während ihre Gedanken zu jenem strahlenden,
heldenhaften Bild von Beau Tregarthan zurückwanderten, das schnell verblasste,
um der allzu nüchternen Wirklichkeit eines schläfrig-trägen Lords in der
Kleidung eines modischen Gecken und mit dem Verstand eines Stutzers Platz zu
machen.
»Sie sollten das
Kind nicht auch noch ermutigen, Mr. Rainbird«, sagte Mrs. Middleton, als Jane
gegangen war.
»Sie
ist ein bezauberndes kleines Ding«, sagte Rainbird ziemlich unbeeindruckt. »Ich
bezweifle sehr, dass sie ein solch bedeutender Mann wie Lord Tregarthan bei
ihren merkwürdigen Ideen unterstützen wird. Miss Jane hat mir erzählt, dass
Lord Tregarthan ihr helfen wolle herauszufinden, wer Miss Clara ermordet hat.«
»Dann
sollte wenigstens er so viel Verstand im Kopf haben, dass er sich nicht über das
Mädchen lustig macht«, meinte Mrs. Middleton. »Ermordet! Wenn sie ermordet
worden wäre, hätte Mr. Gillespie es wohl entdeckt. Was bildet sich Miss Jane
eigentlich ein, das Wort eines Gentleman, der niemand Geringeren als King
George persönlich behandelt hat, anzuzweifeln?«
»Miss
Clara war ja so hübsch und reizend«, schwärmte Alice traumverloren. »Wunderbare
Haare hat sie gehabt, Unmengen Haare. Wie Kastanien. Sie war zu schade für
Männer wie Mr. Bullfinch.«
»Ich
bin mir nicht sicher, ob Miss Clara so lieb und freundlich war, wie sie tat«,
meinte Rainbird. »Ich fand, sie hatte etwas Falsches an sich.«
»Aber
keineswegs«, sagte das Stubenmädchen Jenny beherzt. »Sie war doch so freundlich
zu uns.«
Joseph
kam in die Küche geschwebt. »Es geht das Gerücht, dass der Prince of Wales
Regent werden soll.«
»Das
wäre ja furchtbar!« rief Mrs. Middleton aus. »Der arme König wird wieder zu
sich kommen, bevor das geschieht. Er ist sicher nur vorübergehend verrückt.«
»Manche
sagen«, meinte Joseph, der einen kleinen Schwatz liebte, »dass ihn der Verlust
der britischen Kolonien in Amerika um den Verstand gebracht hat.«
»Und
manche glauben«, sagte Rainbird mit einem boshaften Zwinkern in den Augen, »dass
wir die Kolonien verloren haben, weil Seine Majestät den Verstand verloren
hat.«
»Aufwiegelei,
Mr. Rainbird«, rief Mrs. Middleton verschreckt. »Was wäre denn, wenn Sie einer
hören würde!« Sie schaute ängstlich zum Kellerfenster empor, als ob sie auf
einen lauschenden Soldaten gefasst wäre.
Felice
kam in die Küche, um heißes Wasser zu holen, weil sie eine Pomade für Euphemias
Haar machen wollte.
Mrs.
Middleton setzte sich eifrig in
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