Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
02 Ich bin so Fry: Meine goldenen Jahre

02 Ich bin so Fry: Meine goldenen Jahre

Titel: 02 Ich bin so Fry: Meine goldenen Jahre
Autoren: Stephen Fry
Vom Netzwerk:
nächsten Nachmittag klingelte ich in der Maddox Street an der Praxistür eines Michael Joseph, Klinischer Hypnotiseur.
    Es stellte sich heraus, dass er geborener Ungar war. Der ungarische Akzent ist, und ich nehme an, das liegt an meinem Großvater, mir der liebste auf der Welt. Ich werde nicht »Vot« für »What« schreiben und »deh« für »the«, sondern Sie werden sich einfach vorstellen müssen, dass sich die Stimme von George Solti in meine Gehirnwindungen webt.
    »Erzählen Sie mir den Grund, weswegen Sie hergekommen sind«, sagte er und erwartete wohl, dass ich von Rauchen oder Gewichtskontrolle oder Ähnlichem sprechen würde.
    »Ich muss morgen Abend singen.«
    »Entschuldigung?«
    »Morgen Abend muss ich singen. Live im Fernsehen.«
    Ich schilderte ihm in Umrissen mein Problem.
    »Sie sagen, Sie können nicht singen, und Sie haben auch noch nie gesungen?«
    »Ich denke, es handelt sich um eine mentale Blockade. Ich habe das Ohr, gewöhnlich einige Tonarten zu erkennen. Es-Dur, c-Moll und D-Dur zum Beispiel. Aber wenn ich vor jemandem anderen singen muss, hämmert es sofort in meinen Ohren, meine Kehle schnürt sich zusammen, mein Mund wird trocken, und heraus kommt der unmelodischste und arhythmischste Horror.«
    »Ich verstehe, ich verstehe. Vielleicht sollten Sie Ihre Handflächen auf die Knie legen, das wird sehr angenehm sein, denke ich. Wissen Sie, wenn Sie Ihre Hände auf Ihren Beinen spüren, ist es erstaunlich, wie sie mit dem Fleisch zu verschmelzen scheinen. Nicht wahr? Schon bald lässt sich nur noch schwer sagen, was Ihre Hände sind und was Ihre Beine, stimmt es? Sie sind eins. Und während das geschieht, haben Sie jetzt das Gefühl, als würden Sie in einen Brunnen gesenkt. Ja? Hinunter in die Dunkelheit. Aber meine Stimme ist wie die Rettungsleine, die Sie darauf vertrauen lässt, dass Sie nicht verloren gehen. Meine Stimme wird Sie herausziehen können, aber im Augenblick lässt sie Sie weiter hinunter sinken und sinken, bis Sie im Warmen sind und im Dunkeln. Ja? Nein?«
    »Hm …« Ich spürte, dass ich nicht in Bewusstlosigkeit glitt, denn ich blieb geistig wach und klar, sondern in einen Zustand willentlicher Entspannung und zufriedener Benommenheit. Das Licht erlosch um mich, bis ich behaglich und sicher im Brunnen der Wärme und der Dunkelheit ruhte, wie er es beschrieben hatte.
    »Erzählen Sie mir, wann Sie sich entschieden haben, nicht singen zu können?«
    Und jetzt, völlig unerwartet, stieg mir die klare und detailgetreue Erinnerung an
cong. prac
. vor die Augen.
    »Congregational practice« wird sonnabendmorgens in der Prep School abgehalten, entweder in der Turnhalle, in der Kapelle oder in der Aula. Unser Musiklehrer, Mr Hemuss, nimmt mit uns die Kirchenlieder durch, die sonntags beim Gottesdienst gesungen werden. Ich bin in der ersten Klasse. Ich bin sieben Jahre alt und gewöhne mich gerade daran, zweihundert Meilen entfernt von zu Hause in einem Internat zu stecken. Ich stehe am Ende einer Reihe, mein Gesangbuch in den Händen, und falle in den Gesang der Schüler ein, die den ersten Vers von »Jerusalem the Golden« angestimmt hatten. Kirk, der Aufsichtsschüler, schlendert die Reihen auf und ab, um sicherzustellen, dass sich alle Schüler benehmen. Plötzlich bleibt er neben mir stehen und hebt die Hand.
    »Sir, Sir … Fry singt schief!«
    Es wird gekichert. Mr Hemuss gebietet Ruhe. »Dann sing mal alleine, Fry.«
    Ich weiß nicht, was schief singen bedeutet, aber ich weiß, dass es etwas sehr Schlimmes sein muss.
    »Also!« Hemuss greift in die Tasten, um einen Akkord erklingen zu lassen, und schmettert dann mit kräftigem Tenor die erste Zeile: »Jerusalem the golden …«
    Ich versuche, an der Stelle einzustimmen. »With milk and honey blest …« Die Schüler brechen in Hohngelächter aus, als ich ein unmelodisches heiseres Krächzen hervorpresse.
    »Na ja. Ich denke, es wäre besser, wenn du in Zukunft nur noch die Lippen bewegen würdest«, sagt Mr Hemuss. Kirk grinst triumphierend und geht weiter. Ich bleibe zurück, allein, erhitzt, rosa angelaufen und bebend vor Schmach, Scham und Schrecken.
    Die Erinnerung schrumpft und vergeht, während Michael Josephs besänftigender magyarischer Tonfall mich tröstet. »Es war eine leidvolle Erinnerung, aber jetzt ist es zu einer geworden, die Sie schmunzeln lässt. Denn Sie verstehen jetzt, dass dieses Erlebnis all die Jahre die Musik in Ihnen verschlossen gehalten hat. Morgen Abend müssen Sie singen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher