02_In einem anderen Buch
Zufall, dass von den
ungefähr hundert Stücken des Aischylos nur sieben überlebt
haben und dass Das abermals verlorene Paradies für immer
unbekannt bleiben wird.«
»Warum denn?«
»Fragen Sie nicht«, sagte Tweed knapp. »Außerdem darf man
auch die Nachahmungskriminalität nicht unterschätzen. Wenn
es sich in der Buchwelt herumspricht, wie viel damit zu holen
ist, wenn man Manuskripte aus der Bibliothek klaut, könnte ein
höllisches Chaos ausbrechen.«
»Na schön«, sagte ich. Schließlich war ich es gewöhnt, dass
man als Beamter nicht in alle Gedankengänge der vorgesetzten
Dienststellen eingeweiht wurde. »Und was soll ich jetzt tun?«
»Natürlich ist das keine Angelegenheit für eine Auszubildende«, sagte Tweed. »Aber Sie kennen sowohl das Innere von Vole
Towers als auch die Hauptverdächtigen. Wissen Sie, wo der
Cardenio aufbewahrt wird?«
»In einem Tresor im Inneren der Bibliothek.«
»Gut. Aber erst müssen wir dort mal hinkommen. Können
Sie sich an irgendwelche andere Bücher erinnern, die in Lord
Volescampers Bibliothek stehen?«
Ich dachte einen Augenblick nach. »Ja. Er hatte eine seltene
Erstausgabe von Decline and Fall von Evelyn Waugh.«
»Na also«, sagte er grob. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.
Nichts wie los.«
Wir nahmen den Aufzug zum Stockwerk W, fanden die gesuchte Ausgabe, betraten das Buch durch einen Seiteneingang,
schlichen uns an einer lauten Studentenparty vorbei und standen alsbald in der Bibliothek von Vole Towers.
»Kater?« sagte Harris und sah sich in dem großen Saal um.
»Kannst du uns hören?« 21
»Danke. Ein einfaches ›ja‹ würde reichen. Schick uns die Safeknacker durch die Erstausgabe von Decline and Fall. Sollen
sich aber nicht auf dieser Studentenparty besaufen. Hast du
irgendwas über Volescamper und Kaine?« 22
»Verdammt!« sagte Tweed. »Es war wohl ein bisschen zu optimistisch, dass ich gehofft habe, sie würden ihre eigenen Namen benutzen.«
Neben uns erschienen lautlos zwei Männer, und Harris zeigte auf den Tresor. Der eine Neuankömmling trug einen eleganten Smoking, der andere trug einen eher praktischen Anzug aus
derber Wolle und schleppte eine Werkzeugtasche mit sich
herum. Sie musterten den Panzerschrank mit fachmännischen
Augen. Dann zog der Ältere sein Jackett aus, nahm das Stethoskop, das sein Partner ihm hinhielt, und lauschte ins Innere der
Panzertür, während er langsam an der Kombination drehte. »Ist
das Raffles?« flüsterte ich. »Der berühmte GentlemanVerbrecher?«
Harris nickte und sah auf die Uhr. »Mit seinem Assistenten
Bunny. Wenn jemand den Safe knacken kann, dann die bei
21 »Höre euch laut und deutlich, bin ausreichend verproviantiert, mit frisch
gebügelten Schnurrhaaren und gewienerten Stiefeln, Einsatzbereitschaft
100%!«
22 »Bisher nicht. Im Verzeichnis der Fiktionäre stehen die Namen nicht. Ich
prüfe gerade den Index der unveröffentlichten Figuren im Brunnen der
Manuskripte. Kann noch etwas dauern.«
den.«
»Und wer, glauben Sie, hat den Cardenio gestohlen?«
»Sie verstehen es, schwere Fragen zu stellen. Die Liste der
Verdächtigen ist so lang wie Ihr Arm. Es gibt mindestens eine
Million in der Buchwelt. Jede x-beliebige Figur kann durchgedreht haben. Sie schnappt sich das Manuskript, taucht hier auf
und zieht eine Schau ab.«
»Wie kann man denn feststellen, ob jemand echt ist?«
Harris sah mich spöttisch an. »Das ist nicht einfach. Glauben
Sie, ich gehöre hierher?«
Ich betrachtete den stämmigen Mann mit der klassischen
Tweedjacke im Fischgrätenmuster und berührte ihn mit der
Fingerspitze. Er war genauso real wie jeder andere, den ich
außerhalb oder innerhalb von Büchern je kennen gelernt hatte.
Er atmete, lächelte, verzog das Gesicht – wie sollte ich da irgendwas feststellen?
»Ich weiß nicht. Stammen Sie nicht aus einer Detektivgeschichte der zwanziger Jahre?«
»Falsch«, sagte Harris. »Ich bin genauso real wie Sie. Drei
Tage die Woche arbeite ich als Weichensteller beim Skyrail.
Aber kann ich das beweisen? Ich könnte genauso gut eine
Nebenfigur in irgendeinem obskuren Roman sein. Die einzige
Möglichkeit, das zu überprüfen, bestünde darin, mich zwei
Monate lang rund um die Uhr zu beobachten. Zwei Monate ist
so ungefähr das Limit, wie lange eine literarische Figur ohne
Unterbrechung außerhalb ihres Buchs bleiben kann. Aber
genug davon. Das Wichtigste ist jetzt, das Manuskript zurückzuholen. Dann können wir immer
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