02_In einem anderen Buch
wenn ich es verhindern konnte.
Wir rumpelten auf die Station. Die hinteren Türen wurden
aufgerissen und die Irma Cohens wurden evakuiert. Ich legte
meinen Arm um Kaylieu.
»Gehen Sie von dem Tall weg!« brüllte jemand durch ein
Megaphon.
»Damit Sie ihn erschießen können?« rief ich zurück.
»Er hat das Leben der Passagiere bedroht, Next. Er ist eine
Gefahr für die zivilisierte Gesellschaft.«
»Zivilisiert? Schaut euch doch mal an!« rief ich wütend.
»Next!« rief die Stimme. »Gehen Sie da weg! Das ist ein Befehl!«
»Sie müssen tun, was sie sagen«, flüsterte Kaylieu.
»Nur über meine Leiche!« erwiderte ich.
Wie zur Antwort ertönte ein leises Plopp! und ein Einschussloch erschien auf der Windschutzscheibe des Zuges. Irgendjemand hatte beschlossen, dass sie Kaylieu in jedem Fall erledigen
konnten. Ich wurde unheimlich wütend und versuchte, meinen
Ärger laut herauszuschreien, aber kein Ton kam über meine
Lippen. Meine Beine wurden sehr schwach, die Welt um mich
herum wurde grau und ich fiel auf den Boden. Ich konnte
meine Beine gar nicht mehr spüren. Ich hörte jemand »Sanitäter« schreien, aber das Letzte, was ich sah, ehe alles schwarz um
mich wurde, war Kaylieus breites Gesicht, das auf mich herabsah. Er hatte Tränen in den Augen und sein Mund formte die
Worte: Es tut uns so leid. Es tut uns so sehr leid.
5.
Verschwindende Anhalter
Zeitungssagen sind so alt wie Gamaschen, aber weitaus amüsanter. Ich hatte sie fast alle gehört, vom Pudel in der
Mikrowelle über den Kugelblitz, der eine Hausfrau in Preston verfolgte, bis zum gebratenen Dodo-Schenkel im SmileyFriedChicken und dem rückgezüchteten Diatryma, das
angeblich im New Forest lebt. Ich hatte die Geschichte über
das Raumschiff gelesen, das 1952 in Lambourn notlandete,
ich kannte die Behauptung, dass Charles Dickens in Wirklichkeit eine Frau war und der Präsident der Goliath Corporation ein 142-jähriger Mann ist, der in einer Flasche leben
muss, damit ihn die medizinische Wissenschaft am Leben
zu halten vermag. Auch über SpecOps gibt es viele solche
Geschichten, die gegenwärtig beliebteste ist wohl, dass ›etwas Merkwürdiges‹ in den Quantock Hills entdeckt worden
sei. Ja, ich habe sie alle gehört und keine einzige geglaubt.
Aber dann, eines Tages, war ich selbst so eine Geschichte …
THURSDAY NEXT
– Ein Leben für SpecOps
Ich machte erst das eine Auge auf, dann das andere. Es war ein
warmer Sommertag auf den Marlborough Downs. Ein Zephirwind brachte den Duft von Geißblatt und Thymian mit sich.
Die Luft war mild, und in der untergehenden Sonne färbten die
Schäfchenwölkchen sich rosa. Ich stand neben einer Landstraße
auf einer Wiese. Aus der einen Richtung kam ein Radfahrer auf
mich zu, in der anderen schlängelte sich die Straße zwischen
sanften Hügeln dahin, auf denen Schafe weideten. Wenn so das
Leben nach dem Tode aussah, mussten sich viele Leute keine
Sorgen mehr machen und die Kirche hatte tatsächlich gehalten,
was sie versprach.
»Pssssst!« zischte eine Stimme dicht neben mir. Ich drehte
mich um und sah eine Gestalt, die sich hinter einer großen
Reklametafel der Goliath Corporation versteckte. Es war eine
Anzeige für Konzertflügel. KAUFEN SIE ZWEI FÜR DEN
PREIS VON EINEM, stand darauf.
»Daddy –?«
Er zerrte mich hinter die Tafel. »Was stehst du herum wie
eine Touristin?« fauchte er. »Man könnte meinen, du willst,
dass die Leute dich sehen.«
Ich betrachtete meinen Vater als einen durch die Zeiten irrenden Ritter, aber für die ChronoGarde war er ein Krimineller.
Er hatte ihnen vor siebzehn Jahren seine Dienstmarke an den
Kopf geworfen, als ihn »gewisse historische und moralische
Differenzen« in Konflikt mit dem Hohen Rat der ChronoGarde
gebracht hatten. Der Nachteil dabei war, dass er nach herkömmlichen Begriffen gar nicht mehr existierte: Durch ein
zeitlich genau abgestimmtes Klopfen an der Haustür seiner
Eltern im Jahre 1917 hatte die ChronoGarde dafür gesorgt, dass
der Vorgang, der ursprünglich zu seiner Zeugung geführt hatte,
jählings abgebrochen wurde. Trotzdem war mein Vater noch
immer vorhanden, und meine Brüder und ich waren durchaus
gezeugt worden. »Die Dinge«, pflegte mein Vater zu sagen,
»sind eben viel komplizierter, als wir uns vorstellen können.«
Er machte sich mit einem Bleistiftstummel ein paar Notizen.
»Wie geht's dir denn überhaupt?« fragte er.
»Ich glaube, ich bin gerade versehentlich von einem
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