02_In einem anderen Buch
ernst.« Er sprang auf und umarmte mich innig. »Ich vermisse dich so.«
»Ich vermisse dich auch«, sagte ich. »Aber wo bist du?«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte er mit einem leicht verwirrten Gesichtsausdruck. »Genau genommen bin ich wohl nirgendwo. Bloß hier in deinen Erinnerungen.«
»Ach, das hier sind meine Erinnerungen? Wie ist es denn da
so?«
»Na ja«, sagte Landen. »Es gibt ein paar ganz außergewöhnliche Gegenden, aber auch einige ziemlich scheußliche Ecken. In
dieser Hinsicht ist es so wie Mallorca. Magst du eine Tasse
Tee?«
Ich sah mich nach dem Tee um, aber Landen lächelte bloß.
»Ich bin noch nicht lange hier«, sagte er, »aber ein, zwei Tricks
habe ich schon gelernt. Erinnerst du dich noch an Winchester,
wo es die frischen Scones gab, noch warm aus dem Ofen? Der
Tea-Room war oben im ersten Stock, und es hat draußen geregnet, und dieser Mann mit dem Schirm –«
»Assam oder Darjeeling?« fragte die Kellnerin.
»Darjeeling«, sagte ich prompt. »Und zwei Cream Teas. Für
mich bitte Erdbeermarmelade und für den Herrn Quittengelee.«
Die Insel war verschwunden. An ihre Stelle war der TeaRoom getreten. Die Kellnerin lächelte, notierte alles auf ihren
Block und verschwand. Der Raum war mit liebenswürdigen
älteren Damen und Herren gefüllt, die größtenteils Tweed
trugen. Nicht eben überraschend war es genauso, wie ich es in
Erinnerung hatte.
»Klasse Trick!« sagte ich.
»Ich hab damit wenig zu tun«, sagte Landen und grinste.
»Das hast du selber gemacht. Das gehört alles dir. Der Geruch,
die Geräusche – einfach alles!«
Beeindruckt sah ich mich um. »An das alles kann ich mich
erinnern?«
»Na ja, ein paar Einschränkungen gibt es schon. Schau dir
mal die Leute genauer an.«
Ich drehte mich etwas um und musterte die Tee trinkenden
Leute genauer. Die Paare waren alle mehr oder weniger gleich.
Sie waren alle so an die siebzig, trugen Tweedkostüme und jacken und redeten im näselnden Home Counties-Tonfall. Sie
aßen auch nicht wirklich und sprachen auch nicht in richtigen
Sätzen, sondern murmelten vor sich hin wie Schauspieler, die
den Eindruck zu erwecken versuchen, dass sie Gäste in einem
gut besuchten Café seien.
»Ganz erstaunlich, nicht wahr?« sagte Landen begeistert. »Da
du nicht wissen kannst, wer damals wirklich da war, hat dein
Bewusstsein den Raum ganz einfach mit Leuten gefüllt, die man
in einem Tea-Room erwartet. Mnemonische Tapeten, gewissermaßen. Nichts in diesem Raum ist dir nicht irgendwie vertraut. Das Besteck ist das deiner Mutter, und die Bilder hast du
auch schon alle gesehen, ich glaube, sie stammen aus unserem
Haus, nicht wahr? Die Kellnerin ist eine Mischung aus Lottie –
von deinem letzten Mittagessen mit Bowden – und der Frau aus
dem Fish'n'Chips-Laden. Jede leere Stelle in deiner Erinnerung
wird sofort durch etwas ersetzt, woran du dich tatsächlich
erinnerst. Es ist wie ein Kartenspiel, das so lange durchgemischt
wird, his alle Lücken gefüllt sind.«
Ich sah mir die anderen Gäste noch einmal an. Sie waren
jetzt ziemlich gesichtslos.
Plötzlich fiel mir etwas ein, was mir höchst unangenehm war.
»Landen«, sagte ich. »Du bist doch nicht etwa in der Nähe
meiner Teenager-Jahre gewesen?«
»Aber natürlich nicht. Ich mache doch auch deine privaten
Briefe nicht auf!«
Darüber war ich nun doch sehr erleichtert. Dass ich peinlicherweise mal in einen jungen Mann namens Darren verknallt
und auf dem Rücksitz eines gestohlenen Morris 8 zur Frau
gemacht worden war, brauchte Landen nun wirklich nicht in
allen bitteren Details zu erfahren. Zum ersten Mal wünschte ich
mir, dass ich ein schlechtes Gedächtnis – oder Onkel Mycroft
sein ErinnerungsLöschGerät zur Serienreife gebracht hätte.
Landen schenkte den Tee ein und fragte: »Wie stehen die
Dinge in der realen Welt?«
»Ich muss herausfinden, wie man in Bücher hineinkommt«,
sagte ich ihm. »Ich werde morgen mit der Gravitube nach
Osaka fahren und jemanden suchen, der Mrs Nakijima gekannt
hat. Es ist natürlich nur ein Versuch, aber vielleicht komme ich
auf diesem Weg weiter.«
»Sei nur vorsich –«
Landen unterbrach sich abrupt und starrte über meine
Schulter hinweg. Ich drehte mich um und entdeckte die Person,
die ich am wenigsten sehen wollte. Ich sprang auf, stieß dabei
meinen Stuhl um, zog meine Automatik und zielte damit auf
den hochgewachsenen Mann, der gerade die Treppe heraufkam.
»Aber das ist doch nicht
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