02_In einem anderen Buch
Händen ein spannendes Buch. Verstehen Sie?«
»Ich denke, ja.«
»Okay, und jetzt stellen Sie sich eine Schüssel Milch vor. Eine
riesige Schüssel mit herrlicher sahniger Milch, und die lecken
Sie ganz langsam auf, bis Ihre Schnurrhaare richtig schön nass
sind.« Der Warrington-Kater bibberte vor Aufregung bei dieser
genüsslichen Vorstellung. »So, und wenn Sie das alles jetzt noch
mit tausend malnehmen, dann wissen Sie vielleicht, was ich
meine.«
»Okay. Darf ich die Sahneschüssel jetzt weitergeben?«
»Bitte sehr! Ist schließlich Ihr Traum.« Und der Kater verschwand wieder.
Ich sah mich um und entdeckte ihn zu meiner Überraschung
auf einem Regal auf der anderen Seite des Ganges.
»Für einen Lehrling kommen Sie mir bisschen alt vor«, sagte
er, legte seine Pfoten übereinander und betrachtete mich mit
einer entnervenden Eindringlichkeit. »Wir haben schon seit
zwanzig Jahren auf Sie gewartet. Wo sind Sie so lange gewesen?«
»Ich … ich … wusste nicht, dass ich hätte herkommen können.«
»Sie meinen, Sie wussten, dass Sie es nicht konnten – das ist
etwas ganz anderes. Glauben Sie, dass Sie uns hier bei der
Jurisfiktion helfen können?«
»Das weiß ich nicht«, sagte ich ehrlicherweise – obwohl ich
das Gefühl hatte, dass dies die einzige Hoffnung war, meinen
Ehemann jemals wiederzukriegen.
»Hm«, machte der Warrington-Kater.
Das ärgerte mich, und ich fragte: »Was machst du eigentlich
hier?«
»Ich«, sagte der Kater, »bin der Bibliothekar.«
»Du kümmerst dich um all die Bücher hier?«
»Allerdings. Fragen Sie mich, was Sie wollen.«
»Jane Eyre«, sagte ich und wollte eigentlich bloß wissen, wo
das Buch stand. Aber der Kater gab mir eine etwas andere
Antwort.
»Gehört zu den 728 beliebtesten Büchern, die je geschrieben
wurden«, sagte er. »Insgesamt 82581430 mal gelesen worden bis
heute. Gegenwärtige Leserzahl 829321. Davon haben es 1421
gerade jetzt in der Hand. Eine sehr gute Zahl. Hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass es kürzlich in den Nachrichten war.«
»Und was ist das meistgelesene Buch überhaupt?«
»Bis jetzt? Oder in alle Ewigkeit?«
»In alle Ewigkeit.«
»In der Belletristik ist das meistgelesene Buch Von Mäusen
und Menschen. Es ist nicht nur unglaublich spannend, sondern
ließ sich von allen Wirbeltier-Hyperklassikern auch am besten
ins Arthropodische übersetzen. Bei den Wirbellosen ist natürlich Die Biene Maja der große Renner. Die Mücken allerdings
bevorzugen die Werke von Daphne Farquitt.«
»Aber die sind doch entsetzlich! Die reinsten NackenbeißerRomane.«
»Ja, durchaus. Aber die tiefen Ausschnitte und die schwülen
Gedanken scheinen starke religiöse Instinkte zu wecken. Bei
den Mücken haben sie Kultstatus.«
Ich hatte das Gefühl, dass mir die Dinge entglitten. »Und du
bist also für all diese Bücher verantwortlich?« sagte ich.
»Allerdings«, sagte der Kater leichthin.
»Und wenn ich in eines dieser Bücher hineinwollte, brauchte
ich es bloß in die Hand zu nehmen und zu lesen?«
»Nun ja, ganz so einfach ist es denn doch nicht«, sagte der
Kater. »Sie können nur dann in ein Buch, wenn schon jemand
anderes den Weg gefunden hat und durch die Bibliothek hinausgegangen ist. Die Bücher sind, wie Sie vielleicht bemerkt
haben, rot oder grün eingebunden. Grün heißt: Der Eintritt ist
möglich. Rot heißt: kein Eintritt. Eigentlich ganz einfach. Sie
sind doch nicht farbenblind?«
»Das bedeutet also, wenn ich zum Beispiel – na, sagen wir –
in das Gedicht ›Der Rabe‹ hineinwollte –«
Der Kater zuckte zusammen.
»Es gibt ein paar Orte, die Sie auf keinen Fall aufsuchen sollten«, murmelte er vorwurfsvoll und schlug mit dem Schwanz
hin und her. »Dazu gehören die Werke von Edgar Allan Poe.
Diese Werke sind nicht gefestigt; sie sind irgendwie anders.
Und das gilt für den größten Teil der wirklich makabren Schauergeschichten. De Sade gehört zu diesen Autoren, Webster,
Wheatley und Stephen King. Wenn man da hineingeht, dann
kommt man womöglich nie mehr heraus. Diese Autoren haben
eine Art und Weise, Sie hineinzuziehen in ihre Geschichten,
und ehe man sich's versieht, klebt man fest. Ich will Ihnen mal
etwas zeigen.«
Plötzlich standen wir in einer großen Säulenhalle. Der Fußboden und die Wände bestanden aus dunklem Marmor und
erinnerten mich an ein altes Hotel. Die Halle war allerdings
vierzigmal größer. Man hätte ein Luftschiff darin unterbringen
können.
Weitere Kostenlose Bücher