02_In einem anderen Buch
…«
Miss Havisham warf mir einen Blick zu und formte unhörbar
die Worte: »Auf drei!« Dann seufzte sie theatralisch und ging zu
dem Streifenwagen hinüber. Dabei benahm sie sich, als wäre sie
wirklich steinalt: Sie wackelte mit dem Kopf und ließ die Finger
arthritisch zittern. Ich beobachtete ihre Hand, mit der sie mir –
ohne dass die Beamten es sahen – signalisierte: erst hob sie
einen Finger, dann zwei und dann, während sie sich erschöpft
auf die Kühlerhaube des Polizeifahrzeugs stützte, hob sie den
dritten Finger.
»Achtung!« schrie ich und zeigte hinauf in den Himmel.
»Aufpassen!«
Die beiden Beamten, die natürlich von der Geschichte mit
dem Hispano-Suiza vor zwei Tagen gehört hatten, schauten
auch brav in den Himmel, während ich und Miss Havisham
eilends davonstoben. Wir taten so, als hätten wir zwei Bekannte
entdeckt, stellten uns an die Spitze der Besucherschlange, die
vor dem Eingang der Buchmesse stand und warteten dringend
auf Einlass.
Die Beamten, nicht faul, rannten hinter uns her, aber in diesem Augenblick öffneten sich die Tore des Paradieses, und
Tausende von Bibliophilen aller Altersklassen stürmten hinein.
Die Beamten wurden beiseite gedrängt und am Ende sogar von
den Füßen gerissen, während ich und Miss Havisham im Triumph in die Messehalle gespült wurden.
Im Inneren herrschten chaotische Zustände. Ich wurde bald
von meiner Begleiterin getrennt, als direkt vor mir zwei Herren
mittleren Alters über ein signiertes Exemplar von Kerouacs On
the Road so in Streit gerieten, dass sie die begehrte Trophäe am
Ende in Stücke rissen. Ich kämpfte mich durch die Landkartenabteilung, die Reisebücher und die Ratgeber im Erdgeschoss
und hatte die Hoffnung, Miss Havisham jemals wieder zu
sehen, schon beinahe aufgegeben, als mir eine Frau auffiel,
unter deren grauem Regenmantel eine rote Robe mit langer
Schleppe hervorlugte.
Ich verfolgte die Schleppe quer durch die Halle bis zum Aufzug in die oberen Stockwerke. Ich konnte meinen Fuß gerade
noch in die Tür stellen, ehe der Aufzug nach oben entschwand.
Der Liftboy, ein freundlicher Neandertaler, warf mir einen
eigenartigen Blick zu, öffnete die Türen aber noch einmal, um
mich hereinzulassen, ehe er abfuhr. Die Herzkönigin sah mich
hochnäsig an und wechselte das Standbein, um eine vornehmere Haltung einzunehmen. Sie war ziemlich korpulent; ihr kastanienrotes Haar war zu einem engen Knoten geschlungen, die
Krone war unter der Kapuze des Regenmantels versteckt. Alles,
was sie sonst anhatte, war grellrot, und ich hatte den Verdacht,
dass auch ihre Haut unter dem dicken Make-up nicht eben
blass war.
»Guten Morgen, Euer Majestät«, sagte ich, so höflich ich
konnte.
»Humpf!« gab die Herzkönigin zurück und fügte dann nach
einer Pause hinzu: »Du bist doch der neue Lehrling von dieser
eitlen Miss Havisham, oder?«
»Seit heute Morgen, Ma'am.«
»Ein verschwendeter Tag, würde ich sagen. Hast du auch einen Namen?«
»Thursday Next, Ma'am.«
»Wenn du möchtest, darfst du jetzt einen Knicks machen.«
Also machte ich einen Knicks.
»Du wirst es noch bedauern, dass du nicht bei mir in die Lehre gehst, meine Liebe. Aber da kann man nichts machen, du bist
noch ein Kind, und in deinem Alter kann man richtig und
falsch noch nicht unterscheiden.«
»Welches Stockwerk, Euer Majestät?« fragte der Neandertaler.
Die Herzkönigin strahlte. Wenn er sich bewähre, sagte sie
leutselig, werde sie ihn vielleicht zum Herzog machen. »Dritter
Stock!«
Es entstand eine jener Verlegenheitspausen, wie es sie nur in
Aufzügen und Wartezimmern von Zahnärzten gibt. Wir starr-ten auf den Zeiger, der sich langsam von einem Stockwerk zum
nächsten bewegte.
»Zweiter Stock!« verkündete der Neandertaler und der Aufzug hielt an. »Historisches, Allegorisches, HistorischAllegorisches, Theaterstücke, Lyrik und Theologie, Kritische
Analyse und Bleistifte.«
Die Türen öffneten sich.
»Besetzt!« rief die Herzkönigin, als jemand einzusteigen versuchte, und der Betreffende wich erschrocken zurück.
»Und wie geht es Miss Havisham jetzt so?« fragte die Herzkönigin hochnäsig, als sich der Aufzug wieder in Bewegung
setzte.
»Ganz gut, glaube ich.«
»Du musst sie mal nach ihrer Hochzeit fragen.«
»Ich glaube nicht, dass das klug wäre«, gab ich zurück.
»Mit Sicherheit nicht«, sagte die Herzkönigin und bellte wie
ein Seelöwe. »Aber die Wirkung könnte höchst amüsant sein.
Eine
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