02 - Keiner werfe den ersten Stein
Linken befand sich das Royal Standard Hotel samt grimmig dreinblickendem Portier in piekfeiner Livree; zu seiner Rechten das Museum für Theatergeschichte mit einer aufwendigen Ausstellung prunkvoller elisabethanischer Kostüme und Waffen in den Fenstern. Zwischen diese beiden stattlichen Gebäude eingepfercht, wirkte das Agincourt heruntergekommen un!verwahrlost; aber der äußere Schein trog.
Als Helen Clyde kurz vor Mittag das Theater betrat, blieb sie verblüfft stehen. Sie kannte das Theater von früher: viktorianisch düster und überladen, nicht ohne einen gewissen altmodischen Reiz. Doch was Lord Stinhurst daraus gemacht hatte, war wahrhaft atemberaubend. Sie hatte natürlich in der Zeitung von der Renovierung gelesen, aber eine solche Metamorphose hatte sie nicht erwartet. Stinhurst hatte Architekten und Designern bei der Neueinrichtung praktisch freie Hand gelassen, und diese hatten das gesamte Innere zunächst einmal von allen überflüssigen Schnörkeln befreit und ein hohes, lichtes Foyer geschaffen. Über diese Verwandlung staunend, vergaß Helen einen Moment lang ihre Beklemmung vor dem bevorstehenden Gespräch.
Bis in die Nacht hinein hatte sie mit Barbara Havers und St. James alle Einzelheiten besprochen. Gemeinsam hatten sie hin und her überlegt, wie dieser Besuch im Agincourt zu bewerkstelligen sei. Barbara konnte es nicht wagen, ohne Lynleys Wissen und Zustimmung in ihrer Eigenschaft als Polizeibeamtin dieses Gespräch zu führen, auch wenn das am wirksamsten gewesen wäre; nur Helen oder St. James konnten versuchen, Lord Stinhursts Sekretärin dazu zu bewegen, ihnen Näheres über die Telefongespräche zu berichten, die sie, der Behauptung Stinhursts zufolge, am Morgen nach der Ermordung Joy Sinclairs in seinem Auftrag geführt hatte.
Die nächtliche Konferenz endete schließlich mit der Übereinkunft, daß Helen von den beiden das größere Talent besaß, das Vertrauen anderer zu gewinnen, und daher das Gespräch mit der Sekretärin übernehmen solle. Das alles hatte in der Nacht durchaus vernünftig geklungen - sogar schmeichelhaft, wenn man es so sehen wollte -, jetzt aber, keine zehn Schritte von den Verwaltungsbüros entfernt, wo die ahnungslose Sekretärin wartete, plagten Helen doch starke Bedenken.
»Hallo, Helen? Bist du etwa gekommen, um dich an der neuesten Kampfaktion zu beteiligen?«
Rhys Davies-Jones war an der Tür zum Zuschauerraum erschienen und ging mit einer Kaffeetasse in der Hand zur Bar, wo eine Kaffeemaschine blubberte. Lächelnd gesellte sich Helen zu ihm.
»Möchtest du auch eine Tasse?« fragte Davies-Jones und schenkte sich selbst ein, als sie ablehnte.
»Von was für einer Kampfaktion sprichst du?« fragte sie ihn.
»Kampfaktion ist vielleicht nicht das richtige Wort«, meinte er. »Es ist eher ein allgemeines Gerangel unter unseren zartbesaiteten Stars um die beste Rolle in Stinhursts neuer Produktion. Der Haken dabei ist nur, daß noch gar nicht entschieden ist, welches Stück überhaupt aufgeführt werden soll. Du kannst dir vielleicht vorstellen, wie da in den letzten zwei Stunden rivalisiert und manövriert worden ist.«
»Er macht eine neue Produktion?« fragte Helen ungläubig. »Nach allem, was passiert ist?«
»Er hat gar keine Wahl, Helen. Wir alle sind bei ihm unter Vertrag. Das Theater soll in knapp acht Wochen eröffnet werden. Wenn er nicht mit einer Neuproduktion herauskommt, macht er Riesenverluste. Glücklich ist er bestimmt nicht darüber, und ich fürchte, es wird ihn noch viel härter treffen, wenn erst die Presse wegen der Geschichte mit Joy über ihn herfällt. Ich verstehe sowieso nicht, wieso die Medien sich diese Story nicht längst geschnappt haben.« Er berührte leicht Helens Hand. »Darum bist du hier, nicht wahr?«
Sie hatte gar nicht daran gedacht, daß sie ihm vielleicht begegnen würde, hatte sich nicht überlegt, was sie ihm in einem solchen Fall sagen würde. Unvorbereitet, wie sie war, gab sie ihm die erstbeste Antwort, die ihr in den Sinn kam, und dachte in diesem Moment gar nicht darüber nach, warum sie ihn belog.
»Nein, gar nicht. Ich war zufällig hier in der Gegend und dachte, du würdest vielleicht hier sein. Darum bin ich auf einen Sprung vorbeigekommen.«
Sein Blick, der auf sie gerichtet war, blieb ruhig, und dennoch vermittelte er ihr deutlich, wie albern ihre Ausrede klang. Er war kein Mann, der es zur Stärkung seines Selbstbewußtseins nötig hatte, daß die Frauen ihm nachliefen. Und sie war nicht die
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