02 - Keiner werfe den ersten Stein
einen Moment die Notizen, ehe er zu sprechen fortfuhr, vorsichtig abwägend, als sei ihm klar, daß es wichtig war, sich unparteiisch zu geben. »Ich habe den Eindruck, der Alte war es gewohnt, seinen Kopf durchzusetzen. Und als Geoffrey darauf bestand, unverzüglich nach London zurückzufahren, wurde er wütend, und die Auseinandersetzung wuchs sich zu einem handfesten Krach aus.«
»Gibt es einen Hinweis darauf, warum Geoffrey so unbedingt nach London zurück wollte? Hatte er dort vielleicht eine Freundin, die seinem Vater nicht paßte? Oder vielleicht eine Beziehung zu einem Mann, die er verheimlichen wollte?«
Vinney antwortete nicht gleich. Es wirkte fast so, als klopfe er St. James' Worte auf eine hintergründige Bedeutung ab. Dann räusperte er sich. »Nein, darauf gibt es keinerlei Hinweise. Es ist nie jemand mit der Behauptung an die Öffentlichkeit getreten, eine heimliche Beziehung zu ihm gehabt zu haben, obwohl die Boulevardpresse für so eine Geschichte bestimmt einen Haufen Geld gezahlt hätte. Gerade damals, in den sechziger Jahren, als praktisch ein Sexskandal den anderen jagte, waren solche Enthüllungen doch an der Tagesordnung. Denken Sie nur an Christine Keelers Geschichten über John Profumo. Ich glaube, wenn wirklich jemand ein heimliches Techtelmechtel mit Geoffrey Rintoul gehabt hätte, wäre er oder sie einfach Christine Keelers Beispiel gefolgt.«
»Hm«, meinte St. James nachdenklich, »da ist was dran. Vielleicht sogar mehr, als wir ahnen. John Profumo war Verteidigungsminister. Geoffrey Rintoul war im Verteidigungsministerium tätig. Rintoul kam im Januar um, zur gleichen Zeit, als der Profumo-Keeler-Skandal international in der Presse Schlagzeilen machte. Gibt es zwischen diesen Leuten und Geoffrey Rintoul vielleicht eine Verbindung, die wir nicht sehen?«
Vinney schien geschmeichelt. »Ich würde es gern glauben. Aber wenn Rintoul Beziehungen zu einem Callgirl unterhielt, warum hätte sie den Mund halten sollen, wo die Presse ihr doch für ihre Enthüllungen über ihre Beziehung zu einem Regierungsmitglied ein kleines Vermögen bezahlt hätte?«
»Vielleicht war es kein Callgirl. Vielleicht war Rintoul mit einer Person liiert, die das Geld nicht brauchte und nicht davon profitiert hätte, wenn die Geschichte publik geworden wäre.«
»Mit einer verheirateten Frau, meinen Sie?«
Wieder waren sie bei Lord Stinhursts Geschichte über seinen Bruder und seine Frau angelangt. St. James ging zum nächsten Punkt über. »Und die Aussagen der anderen?«
»Sie bestätigten allesamt die Geschichte des Alten von dem Streit und Geoffrey Rintouls nachfolgender wütender Abfahrt und dem Unfall. Eins allerdings war merkwürdig: Die Leiche war stark verbrannt, deshalb mußte man aus London Röntgenbilder und die Patientenkarte von Rintouls Zahnarzt kommen lassen, um die Identifizierung vornehmen zu können. Rintouls Arzt, Sir Andrew Higgins, brachte die Unterlagen persönlich. Er nahm die Untersuchung gemeinsam mit dem Amtsarzt der Polizeidienststelle Strathclyde vor.«
»Das ist sicher ungewöhnlich, aber doch nichts Verdächtiges.«
»Darum geht es nicht.« Vinney schüttelte den Kopf. »Sir Andrew war ein alter Schulfreund von Geoffreys Vater. Die beiden waren zusammen in Harrow und Cambridge gewesen. Sie gehörten demselben Londoner Club an. Er starb 1970.«
St. James zog aus diesen Erläuterungen selbst seine Folgerungen. Sir Andrew hatte vielleicht verheimlicht, was verheimlicht werden mußte. Er hatte vielleicht nur das offengelegt, was unbedingt offengelegt werden mußte. Doch bei Betrachtung all dieser lückenhaften Informationen fand St. James einen Zeitraum - Januar 1963 - am bedeutendsten. Er hätte allerdings nicht sagen können, warum. Er griff nach den Fotografien.
Die erste zeigte eine Gruppe schwarzgekleideter Menschen, die im Begriff waren, in mehrere wartende Limousinen einzusteigen. Die meisten von ihnen erkannte St. James. Francesca Gerrard am Arm eines Mannes mittleren Alters, vermutlich ihres Ehemanns Phillip; Stuart und Marguerite Rintoul, die sich zu zwei verwirrt wirkenden Kindern hinunterneigten und mit ihnen sprachen, zweifellos Elizabeth und ihr älterer Bruder Alec; mehrere Personen im Gespräch auf der Treppe eines Gebäudes im Hintergrund, die Gesichter unscharf. Die zweite Aufnahme zeigte den Unfallort, weiße Schneelandschaft, in der das ausgebrannte Stück Land wie eine schwarze Wunde wirkte. Neben der ausgebrannten Schneise im Schnee stand ein Bauer mit
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