02 - Keiner werfe den ersten Stein
nicht mehr tun. Ist das klar?«
Er hörte die zornige Gereiztheit in ihrer Stimme, als sie antwortete. »Und was für Aufträge haben Sie für mich, wenn Stinhurst abgedampft ist?«
»Gehen Sie in mein Büro, machen Sie die Tür zu und warten Sie, bis Sie von mir hören.«
»Und wenn Webberly einen Fortschrittsbericht verlangt?«
»Dann sagen Sie ihm, er kann mir den Buckel runterrutschen«, versetzte Lynley. »Nachdem Sie ihm vorher mitgeteilt haben, daß wir über die Einmischung vom Special Branch und MI5 Bescheid wissen.«
Er konnte Barbaras Lächeln förmlich sehen. »Mit Vergnügen, Sir. Wie ich immer schon sagte, wenn das Schiff sowieso sinkt, kann man ruhig noch ein paar Löcher in den Bug schlagen.«
Als Lynley eine Käseplatte und ein Glas Guinness verlangte, machte John Darrow ein Gesicht, als würde er die Bestellung am liebsten zurückweisen. Doch die Anwesenheit dreier Männer am Tresen und einer alten Frau, die am Feuer über einem Schnaps döste, hielt ihn offenbar davon ab. Und so bekam Lynley, der an einem der Tische beim Fenster Platz genommen hatte, keine fünf Minuten später eine große Platte mit Stilton und Cheddar, eingelegten Silberzwiebeln und knusprigem Brot serviert.
Er aß in aller Ruhe, ohne sich von den neugierigen Blicken der anderen Gäste stören zu lassen. Bauern aus der Gegend ohne Zweifel, die bald gehen würden, um ihr Tagwerk zu erledigen. Dann würde John Darrow keine Wahl bleiben, als sich dem Gespräch mit Lynley zu stellen, dem er unverkennbar so gern aus dem Weg gegangen wäre.
Darrow war jetzt mit den Männern am Tresen richtiggehend vertraulich geworden, als hoffte er, diese ungewohnte Freundlichkeit könne sie verleiten, länger als gewöhnlich zu bleiben. Im Augenblick unterhielten sie sich über Sport, ein lautes Gespräch über das Fußballteam von Newcastle, das unterbrochen wurde, als die Tür aufflog und ein Junge von vielleicht sechzehn Jahren hereinstürmte.
Lynley hatte ihn schon aus der Richtung von Mildenhall kommen sehen, auf einem alten Motorrad, dessen Farbe man unter der Schmutzschicht kaum erkennen konnte. Der Junge, derb gekleidet in schwere Arbeitsstiefel, Bluejeans und eine voluminöse Lederjacke, hatte seine Maschine vor dem Haus abgestellt und sich dann ein paar Minuten Zeit genommen, um auf die andere Straßenseite zu gehen und Lynleys Wagen zu begutachten. Er war so stämmig gebaut wie John Darrow, hatte aber die helle Haut und das blonde Haar seiner Mutter.
»Wem gehört der Schlitten da draußen?« rief er vergnügt, als er hereinkam.
»Mir«, sagte Lynley.
Der Junge kam zu ihm an den Tisch und warf dabei mit einer halb verlegenen Kopfbewegung das blonde Haar zurück. »Tolles Gerät«, sagte er und blickte sehnsüchtig zum Fenster hinaus. »Muß Sie 'ne Stange Geld gekostet haben.«
»Tut es immer noch. Es schluckt Benzin, daß einem Hören und Sehen vergehen kann. Ich frage mich ehrlich gesagt oft, ob ich nicht lieber auf so was umsteigen soll.«
Lynley wies mit dem Kopf auf das Motorrad vor dem Haus.
»Das wär was!« Der Junge lachte. »Das ist ein echtes Museumsstück, sag ich Ihnen. Aber laufen tut sie klasse. Letzte Woche -«
»Du hast noch was zu erledigen, Teddy«, unterbrach John Darrow scharf. »Mach dich an die Arbeit.«
Mit der Ermahnung hatte Darrow das Gespräch zwischen seinem Sohn und dem unwillkommenen Polizeibeamten unterbrochen und auch die anderen Gäste an die Zeit erinnert. Die Bauern bezahlten, die alte Frau am Kamin stand gähnend auf, und Augenblicke später waren nur noch Lynley und John Darrow in der Gaststube. Gedämpfte Rockklänge und Türenschlagen aus der Wohnung darüber kündeten davon, daß Teddy sich bereits an seine Arbeit gemacht hatte.
»Er ist gar nicht in der Schule«, stellte Lynley fest.
Darrow schüttelte den Kopf. »Er ist fertig. In der Beziehung ist er wie seine Mutter. Für Bücher hatte er nie viel übrig.«
»Ihre Frau hat nicht gelesen?«
»Hannah? Die hat nie ein Buch aufgeschlagen. Sie besaß nicht mal eines.«
Lynley nahm seine Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an. Dann schlug er die Akte über Hannah Darrows Selbstmord auf. Er nahm den Abschiedsbrief heraus. »Dann ist das hier doch sehr merkwürdig, finden Sie nicht? Was glauben Sie, wo sie es abgeschrieben hat?«
Darrow kniff die Lippen zusammen, als er den Brief erkannte, den Lynley ihm schon einmal gezeigt hatte.
»Dazu hab ich nichts mehr zu sagen.«
»Sie werden leider nicht darum herumkommen.«
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