02 - Keiner werfe den ersten Stein
ihn kein Hindernis bildete.
Die Straße oberhalb der Treppe war von mächtigen alten Buchen und Platanen gesäumt, die lange Schatten warfen. Lynley blieb einen Moment stehen, um zu versuchen trotz des Pfeifens des Nachtwinds und des Heulens der Hunde zu hören, in welcher Richtung der Flüchtige davongelaufen war. Mit scharfem Blick suchte er die Finsternis ab. Barbara tauchte neben ihm auf, immer noch fluchend und gleichzeitig um Atem ringend.
»Wo ist er -«
Lynley hörte das Geräusch zuerst. Es kam von seiner Linken. Ein dumpfes Scheppern von Metall, als der Flüchtige gegen eine Mülltonne stieß. Mehr brauchte Lynley nicht.
»Er will zur Kirche.« Er schob Havers zur Treppe zurück.
»Laufen Sie zu den anderen«, befahl er. »Sagen Sie ihnen, sie sollen ihm bei der Kirche den Weg abschneiden. Los, machen Sie schon.«
Er wartete nicht, um zu sehen, ob sie seinem Befehl Folge leistete. Das Dröhnen der eilenden Schritte trieb ihn erneut zur Jagd, über Holly Hill hinweg zu einer schmalen Straße, wo er triumphierend sah, daß alle Vorteile auf seiner Seite waren. Eine Reihe hoher Mauern auf der einen Seite, eine offene Grünanlage auf der anderen. Die Straße bot keinerlei Schutz. Blitzartig sah er den Mann etwa vierzig Meter vor ihm durch ein offenstehendes Tor in einer der Mauern verschwinden. Als er selbst das Tor erreichte, entdeckte er, daß die dahinter liegende Auffahrt nicht geräumt war. Eine deutlich sichtbare Fußspur führte über die Schneefläche in einen Garten. Dort sah er den Mann mit einer Stechpalmenhecke kämpfen. Seine Kleider hatten sich an den dornigen Blättern verfangen. Einmal schrie er wütend auf vor Schmerz. Irgendwo begann ein Hund zu bellen. Scheinwerfer flammten auf. Auf der High Street unterhalb des Hügels war das Heulen von Sirenen zu hören, das zu ohrenbetäubender Lautstärke anschwoll, als die Polizeifahrzeuge näher kamen.
Die unmittelbar drohende Gefahr schien dem Mann die Kraft der Verzweiflung zu geben, die er brauchte, um sich aus der Hecke zu befreien. Mit einer schnellen Bewegung drehte er sich zu Lynley um, schien die Entfernung abzuschätzen und riß sich aus der schmerzhaften Umklammerung der Stechpalmen. Endlich frei, fiel er auf der anderen Seite der Hecke auf die Knie, rappelte sich wieder auf, rannte weiter. Lynley schlug einen Haken in die andere Richtung, entdeckte ein zweites Tor in der Mauer und kämpfte sich durch den Schnee dorthin. Dann stürzte er zur Straße hinaus.
Zu seiner Rechten erhob sich groß und massig St. John's aus der Dunkelheit. An der niedrigen Mauer, die den Kirchhof umgab, bewegte sich ein Schatten, kauerte sich zusammen, sprang und war hinüber. Lynley lief weiter.
Mühelos übersprang er die Mauer und landete auf der anderen Seite im tiefen Schnee. Er sah den Flüchtenden zu seiner Linken. Er hielt auf den Friedhof zu. Das Heulen der Sirenen kam näher.
Lynley kämpfte sich durch den Schnee, in dem er bis zu den Knien versank, und erreichte den geräumten Weg. Die dunkle Gestalt vor ihm rannte geduckt zwischen den Gräbern hindurch.
Auf so einen Fehler hatte Lynley nur gewartet. Der Schnee auf dem Friedhof war so hoch, daß manche Grabsteine ganz unter ihm begraben waren. Es dauerte nur Augenblicke, bis er den Mann, der immer wieder gegen einen zugeschneiten Grabstein stieß, laut fluchen hörte.
Die Sirenen waren jetzt verstummt. Das rhythmische Blinken der Blaulichter flackerte in der Dunkelheit, die ersten Polizeibeamten kamen über die Mauer. Mit den Lichtkegeln ihrer Taschenlampen versuchten sie den Flüchtigen zu erfassen. Doch in der Helligkeit war nun auch der Fluchtweg leichter zu finden. Der Flüchtige rannte nun wieder schneller, schlug Haken um Monumente und Grabmäler und versuchte die gegenüberliegende Friedhofsmauer zu erreichen.
Lynley blieb auf dem geräumten Weg, der sich zwischen Bäumen hindurchschlängelte. Herabgefallene Fichtennadeln boten ihm auf den Eisplatten guten Halt. Allein dadurch, daß er sich leichter und freier bewegen konnte, holte er auf.
Der Flüchtige war vielleicht sechs Meter von der Mauer entfernt. Links von ihm wateten zwei Constables keuchend durch den tiefen Schnee. Hinter ihm war Havers, die ihm auf seinem Weg zwischen den Gräbern hindurch gefolgt war. Rechts von ihm war Lynley. Es gab kein Entkommen. Mit einem wütenden Aufschrei sprang er auf die Mauer zu. Aber Lynley hatte ihn schon gepackt.
Der Mann wirbelte herum und holte gleichzeitig mit dem Arm aus. Lynley lockerte
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