02 - Keiner werfe den ersten Stein
ab?«
»Aber schleunigst«, antwortete St. James lächelnd. »Das kommt wahrscheinlich davon, wenn man mit dem Schwiegervater unter einem Dach lebt. Wir brauchen nur ein paar Tage ohne ihn zu sein, und schon sinken wir in tiefste Lasterhaftigkeit ab. Warum?«
»Was macht ihr dann mit dem Schlüssel?«
St. James sah von Lynley zur Tür. »Wir lassen ihn im allgemeinen stecken.«
»Richtig.« Vom Toilettentisch nahm Lynley den Zimmerschlüssel. Er hielt ihn an dem Ring mit dem Etikett, auf dem die Zimmernummer stand. »So machen es jedenfalls die meisten Leute. Und was meinst du, warum Joy Sinclair die Tür abgesperrt und den Schlüssel auf den Frisiertisch gelegt hat?«
»Es gab gestern abend doch einen Streit, nicht wahr? Und sie war in ihn verwickelt. Es kann gut sein, daß sie durcheinander oder sehr erregt war, als sie wieder ins Zimmer kam. Vielleicht hat sie abgeschlossen und den Schlüssel dann in ihrem Zorn einfach auf den Tisch geworfen.«
»Möglich. Oder vielleicht hat gar nicht sie selbst die Tür abgeschlossen. Vielleicht kam sie nicht allein hier herein, sondern mit einer anderen Person, die absperrte, während sie im Bett wartete.« Lynley bemerkte, daß Macaskin an seiner Unterlippe zupfte. »Sie sind anderer Meinung?« fragte er.
Macaskin kaute einen Moment versunken an seinem Daumennagel, ehe er ärgerlich die Hand vom Mund wegzog. »Nein, ich glaube nicht, daß jemand bei ihr war«, antwortete er.
Lynley legte den Schlüssel wieder auf den Toilettentisch, ging zum Schrank und öffnete beide Türen. Drinnen sah es unordentlich aus. Die Kleidungsstücke auf den Bügeln hingen schief, als seien sie nur in aller Eile darübergestreift worden; die Schuhe waren einfach hineingeworfen; auf dem Boden lag in einem Haufen eine Bluejeans; im aufgeklappten Koffer stapelten sich Strümpfe und Unterwäsche.
Lynley sah die Sachen durch und wandte sich dann wieder Macaskin zu. »Warum nicht?« fragte er ihn, während St. James zur Kommode ging und die Schubladen zu öffnen begann.
»Sie konnten es auf den Fotografien wahrscheinlich nicht erkennen«, antwortete Macaskin, »aber sie hatte die Jacke eines Herrenpyjamas an.«
»Aber dann ist es doch noch wahrscheinlicher, daß jemand mit ihr im Zimmer war.«
»Sie meinen, sie trug die Pyjamajacke des Mannes, der mit ihr hier war? Glaube ich nicht.«
»Und warum nicht?« Lynley schloß die Schranktüren und lehnte sich dagegen.
»Besucht ein Mann seine Angebetete in seinem ältesten Pyjama?« fragte Macaskin im selbstsicheren Ton eines Vortragenden, der über sein Thema ausgiebig nachgedacht hatte. »Die Jacke, die sie anhatte, war völlig verwaschen und an den Ellbogen durchgewetzt. Mindestens sechs oder sieben Jahre alt, würde ich schätzen. Vielleicht sogar älter. Na, würde ein Mann so was zu einer Liebesnacht anziehen oder der Dame als Erinnerungsstück zurücklassen?«
»So, wie Sie die Jacke beschreiben«, meinte Lynley nachdenklich, »hört es sich eher an, als sei sie eine Art Talisman gewesen.«
»Genau.« Lynleys Zustimmung schien Macaskin zu ermutigen, näher auf sein Thema einzugehen. Er wanderte vom Bett zum Toilettentisch und von dort zum Schrank und gestikulierte mit beiden Händen, um seine Worte zu unterstreichen. »Und wenn wir annehmen, daß die Pyjamajacke immer schon ihr gehörte und gar nicht von einem Mann stammte - würde sie ihren Liebhaber in so einem Ding erwarten? Ich kann's mir jedenfalls nicht vorstellen.«
»Ich auch nicht.« St. James, der noch an der Kommode stand, drehte sich kurz um. »Und wenn wir bedenken, daß es keinerlei Anzeichen für einen Kampf gibt, müssen wir zu dem Schluß kommen, daß sie schlief, als der Dolchstich sie traf - auch wenn sie vielleicht noch wach war, als der Mörder kam - wenn es beispielsweise eine Person war, die sie hereingelassen hatte, um noch einen kleinen Schwatz zu halten.«
»Und selbst wenn sie nicht schlief«, meinte Lynley, »war sie auf jeden Fall völlig überrascht. Das heißt, der Mörder müßte jemand sein, dem sie vertraute. Aber hätte sie in dem Fall nicht eigenhändig die Tür abgeschlossen?«
»Nicht unbedingt«, widersprach Macaskin. »Der Mörder kann abgeschlossen, sie getötet haben und -«
»- und in Helens Zimmer zurückgekehrt sein«, vollendet!Lynley kalt. Mit einer heftigen Kopfbewegung wandte er sich St. James zu. »Bei Gott-«
»Noch nicht«, sagte St. James.
Sie setzten sich an einen kleinen, mit Zeitschriften beladenen Tisch am Fenster, Lynley
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