Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
02 - Keiner werfe den ersten Stein

02 - Keiner werfe den ersten Stein

Titel: 02 - Keiner werfe den ersten Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
Vom Netzwerk:
Macaskin waren schon nach oben verschwunden.
    Sie fuhr sich mit der Hand über ihr Haar. »Kannst du dir vorstellen, wie es ist, einen ganzen Tag mit einem Haufen Leute zu verbringen, die einen direkten Draht zu Thespis haben?« fragte sie. »Seit heute morgen halb acht stürzen wir von einem Gefühlsausbruch in den anderen. Von der Hysterie in tiefste Trauer und weiter in den Verfolgungswahn. Ehrlich, schon gegen Mittag hätte ich ein Königreich für eine von Hedda Gablers Pistolen gegeben.« Fröstelnd zog sie den Mantel bis zum Hals hinauf. »Aber sonst geht's mir gut. Glaube ich jedenfalls.« Ihr Blick flog zur Treppe und kehrte zu St. James zurück. »Was ist eigentlich mit Tommy los?«
    Barbara Havers, die hinter ihr stand, machte eine scharfe Bewegung, aber Helen konnte die Geste nicht klar erkennen. St. James, das fiel ihr auf, ließ sich Zeit mit der Antwort, hielt es für nötig, zuerst ein nicht vorhandenes Stäubchen von seinem Hosenbein zu wischen. Als er dann sprach, antwortete er ihr mit einer Gegenfrage.
    »Und was, um alles in der Welt, tust du hier, Helen?«
    Sie warf einen Blick auf die geschlossene Tür zur Bibliothek. »Rhys hat mich eingeladen. Er hat die Regie in Lord Slinhursts neuer Produktion, mit der das Agincourt eröffnet werden soll. Sie wollten dieses Wochenende das neue Stück durchgehen, gewissermaßen in erster Lesung.«
    »Rhys?« wiederholte St. James.
    »Rhys Davies-Jones. Erinnerst du dich nicht an ihn? Meine Schwester war mit ihm befreundet. Vor Jahren. Ehe er -« Helen zögerte, drehte an einem Knopf ihres Mantels, während sie überlegte, wieviel sie sagen sollte. »Er hat in den letzten zwei Jahren in der Provinz gearbeitet«, erklärte sie schließlich. »Das hier soll seine erste Londoner Produktion werden. Seit Der Sturm. Vor vier Jahren. Wir waren dort. Das mußt du doch noch wissen.«
    Sie sah ihm an, daß er sich erinnerte.
    »Ach, du meine Güte«, sagte er mit einem Anflug von Hochachtung in der Stimme. »Das war Davies-Jones? Das hatte ich völlig vergessen.«
    Helen wunderte sich. Sie jedenfalls würde diesen Abend niemals vergessen; diesen schrecklichen Abend im Theater, als Rhys Davies-Jones, der Regisseur, mitten in der Vorstellung selbst auf die Bühne gestürmt war und jeder gesehen hatte, daß er volltrunken war. In einem wilden Kampf mit Dämonen, die einzig er sehen konnte, hatte er Schauspielerinnen und Schauspieler von der Bühne gejagt und in einem unglaublichen Auftritt seiner Karriere in aller Öffentlichkeit ein Ende gesetzt. Sie hatte die Szene noch heute vor Augen - die Bühne, den Tumult, die Zerstörung, die er angerichtet hatte. Während der Rede im vierten Akt war er in trunkener Raserei mitten in das hohe Pathos hineingestürmt und hatte in einem einzigen Augenblick seine Vergangenheit und seine Zukunft ausgelöscht.
    »Er war danach vier Monate im Krankenhaus. Er ist jetzt - er ist wieder ganz gesund. Ich traf ihn durch Zufall letzten Monat in der Brompton Road. Wir haben zusammen gegessen und - seitdem haben wir uns ziemlich häufig gesehen.«
    »Er scheint ja wirklich wieder ganz auf dem Damm zu sein, wenn er jetzt mit Stinhurst, Ellacourt und Gabriel zusammenarbeitet. Hohe Gesellschaft für einen -«
    »Einen Mann seines Rufs, meinst du?« Helen senkte den Blick. »Ja, vielleicht hast du recht. Aber Joy Sinclair war seine Cousine. Die beiden standen einander sehr nahe, und ich glaube, sie sah hier eine Gelegenheit, ihm am Londoner Theater eine zweite Chance zu geben. Es war zum großen Teil ihr Werk, daß Lord Stinhurst ihn verpflichtete.«
    »Sie hatte Einfluß auf Stinhurst?«
    »Ich hatte den Eindruck, daß Joy bei jedem Einfluß hatte.«
    »Wie meinst du das?«
    Helen zögerte. Es lag ihr nicht, Negatives über andere zu sagen, auch wenn es wie hier den Ermittlungen in einer Mordsache dienlich sein konnte. Es ging ihr gegen den Strich, selbst St. James gegenüber, von dem sie wußte, daß sie ihm rückhaltlos vertrauen konnte. Aber sie spürte, daß er auf eine Antwort wartete, und sie gab sie ihm widerstrebend, nicht ohne vorher einen forschenden Blick auf Barbara Havers geworfen zu haben, als wolle sie sich vergewissern, daß sie auf deren Diskretion zählen könne.
    »Sie hatte anscheinend im vergangenen Jahr eine Affäre mit Robert Gabriel. Deswegen gab es gestern nachmittag eine Riesenszene zwischen den beiden. Gabriel verlangte von Joy, sie solle seiner geschiedenen Frau sagen, er hätte nur ein einziges Mal mit ihr geschlafen.

Weitere Kostenlose Bücher