02 - Keiner werfe den ersten Stein
machte eine Bewegung, als wolle sie sich auf ihn stürzen. Ihr Vater stand auf und hielt sie zurück. Gleich würde der ganze Auftritt noch einmal von vorn durchgespielt werden. Aber da erschien Mary Agnes Campbell an der Tür und blieb mit großen Augen zaghaft stehen. Francesca ging zu ihr.
»Ist das Abendessen aufgetragen, Mary Agnes?« fragte sie.
Mary Agnes blickte sich suchend um. »Gowan?« entgegnete sie. »Ist er nicht hier bei Ihnen? Auch nicht bei der Polizei? Die Köchin sucht ihn ...« Sie brach ab. »Haben Sie ihn nicht gesehen?«
Lynley blickte von St. James zu Barbara Havers. Einen Moment dachten sie alle drei das Undenkbare. Und alle drei setzten sie sich gleichzeitig in Bewegung. »Sorgen Sie dafür, daß niemand den Raum verläßt«, sagte Lynley zu Constable Lonan.
Sie gingen in unterschiedliche Richtungen, Barbara die Treppe hinauf, St. James den unteren Nordostkorridor entlang, Lynley ins Speisezimmer und weiter durch die Geschirrkammer und die Anrichte. Er stürmte in die Küche. Die Köchin, einen dampfenden Topf in der Hand, fuhr erschrocken zusammen. Etwas heiße Bouillon schwappte aus dem Topf. Oben hörte Lynley Havers den Westkorridor entlanglaufen. Türen flogen auf. Sie rief laut den Namen des Jungen.
Sieben Schritte, und Lynley war an der Tür zur Spülküche. Der Knauf drehte sich unter seiner Hand, aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Irgend etwas blockierte sie.
»Havers!« rief er laut, und als keine Antwort kam, mit wachsender Beunruhigung: »Havers! Verdammt noch mal!«
Dann hörte er sie die Hintertreppe hinunterpoltern, hörte ihren entsetzten Aufschrei, das Geräusch plätschernden Wassers, wie wenn ein Kind durch einen Teich watet. Kostbare Sekunden vergingen. Und dann ihre Stimme, angstvoll, mit einem Schimmer Hoffnung und doch schon der Vergeblichkeit aller Hoffnung gewiß.
»Gowan! Um Gottes willen!«
»Havers, Herrgott noch mal -«
Er hörte ein Geräusch, als würde etwas über den Boden geschleift. Die Tür ließ sich einen schmalen Spalt öffnen, und Lynley schlüpfte in die von Hitze und Dampf erfüllte Kammer.
Gowan hatte mit rotverschmiertem und verklebtem Rücken bäuchlings auf der obersten der drei Stufen zur Spülküche gelegen. Offensichtlich hatte er versucht, dem kochenden Wasser aus dem Boiler, das sich auf dem Fliesenboden mit dem leicht abgekühlten Wasser mischte, zu entkommen. Das Wasser auf dem Boden war knöcheltief, und Barbara watete noch einmal hindurch, um den Nothahn zu suchen. Als sie ihn gefunden und zugedreht hatte, trat eine unheimliche Stille ein, die von der Stimme der Köchin auf der anderen Seite der Tür durchbrochen wurde.
»Ist es Gowan? Ist es der Junge?« Sie begann eine laut wimmernde Klage, deren Töne zitternd von den Küchenwänden zurückgeworfen wurden.
Doch als sie innehielt, wurde ein anderes Geräusch hörbar. Gowan atmete. Er lebte.
Lynley drehte den Jungen um. Sein Gesicht und sein Hals waren eine einzige rote Masse verbrühten Fleisches. Hemd und Hose klebten ihm am Körper.
»Gowan!« rief Lynley. Und dann: »Havers, rufen Sie einen Notwagen. Holen Sie St. James!« Sie rührte sich nicht. »Verdammt noch mal, Havers! Tun Sie, was ich sage.«
Doch ihr Blick haftete unverwandt auf dem Gesicht de!Jungen. Lynley beugte sich wieder hinunter, sah die beginnende Starre der Augen, wußte, was sie zu bedeuten hatte.
»Gowan! Nein!«
Einen Moment lang schien Gowan verzweifelt zu versuchen, auf den Ruf zu reagieren, ihm aus der Dunkelheit zurückzufolgen. Er holte röchelnd Atem. »Habe nicht - gesehn .«
Havers beugte sich tiefer. »Wen, Gowan? Wen?«
Der Blick des Jungen suchte sie. Aber es kam keine Antwort mehr. Ein Schauder durchzuckte seinen Körper, dann rührte er sich nicht mehr.
Lynley bemerkte, daß er in dem verzweifelten Bemühen, dem gemarterten Körper Leben einzuhauchen, Gowans Hemd gepackt hatte. Jetzt ließ er es los, ließ den toten Jungen auf die Stufe zurücksinken. Eine ungeheure Empörung erfüllte ihn, die wie ein Heulen, ein Wahnsinnsschrei durch seinen ganzen Körper tobte. Er dachte an das vergeudete Leben - die Generationen von Leben, die hier zerstört worden waren - mit diesem einen Jungen, der nichts getan hatte. Was war es, wofür er mit seinem Leben hatte bezahlen müssen? Eine beiläufige, unbedachte Bemerkung? Mitwisser?
Seine Augen brannten, sein Herz hämmerte, und einen Moment lang wollte er nicht hören, daß Barbara Havers zu ihm sprach. Ihre Stimme war
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