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02 - Keiner werfe den ersten Stein

02 - Keiner werfe den ersten Stein

Titel: 02 - Keiner werfe den ersten Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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machen. Es war eine unglaublich harte Zeit. Um überhaupt zu überleben, konnte ich nur entweder heimlich zum Whisky greifen oder versuchen Schottisch zu lernen. Ich entschied mich für Schottisch. Daß ich es lernte, garantierte mir mein Zimmergenosse; der weigerte sich nämlich, irgend etwas anderes zu sprechen.« Er berührte sachte ihr Haar. Die Berührung wirkte zaghaft und unsicher.
    »Helen, bitte. Ich will kein Mitleid.«
    Das war seine Art, dachte sie. Die Wahrheit zu verlangen und sich ihr preiszugeben. Mitleid hätte ihn kleingemacht und zum Opfer einer Krankheit gestempelt, die nicht zu heilen war.
    »Wie kommst du auf Mitleid? Hast du die vergangene Nacht so verstanden?«
    Er seufzte. »Ich bin zweiundvierzig Jahre alt. Weißt du das, Helen? Bin ich fünfzehn Jahre älter als du? Oder noch mehr?«
    »Zwölf Jahre.«
    »Ich war einmal verheiratet. Ich habe mit einundzwanzig geheiratet. Toria war neunzehn. Frisch vom Provinztheater alle beide, und wir glaubten, wir könnten die Londoner Theaterszene revolutionieren.«
    »Das wußte ich nicht.«
    »Sie hat mich verlassen. Ich war den Winter auf Tournee, in Norfolk und Suffolk - zwei Monate hier, einen dort, von einem billigen Hotelzimmer ins andere. Und ich dachte noch, es wäre gut, weil es Geld brachte, um Essen zu kaufen und die Kinder zu kleiden. Aber als ich nach London zurückkam, war sie fort, heim nach Australien, in die Sicherheit ihrer Familie.« Seine Augen hatten einen Ausdruck der Verlorenheit.
    »Wie lang warst du verheiratet?«
    »Nur fünf Jahre. Aber es war wohl lange genug für Toria, um mich von meinen schlimmsten Seiten kennenzulernen.«
    »Sag nicht -«
    »Doch. Ich habe meine Kinder in den vergangenen fünfzehn Jahren nur ein einziges Mal gesehen. Sie sind jetzt Teenager, ein Junge und ein Mädchen, die mich nicht einmal kennen. Und das Schlimmste daran ist, daß es meine eigene Schuld ist. Toria ist nicht gegangen, weil ich im Theater ein Versager war, wenn auch meine Erfolgschancen, weiß Gott, ziemlich mager waren. Sie ist gegangen, weil ich ein Trinker war. Ich bin es immer noch. Ein Trinker, Helen. Das darfst du nie vergessen. Ich darf nicht zulassen, daß du es vergißt.«
    Sie wiederholte ihm, was er selbst eines Abends gesagt hatte, als sie durch den Hyde Park gegangen waren. »Aber das ist ja nur ein Wort. Es besitzt nur die Macht, die wir ihm zu geben bereit sind.«
    Er schüttelte den Kopf. Sie spürte den schweren Schlag seines Herzens.
    »Haben sie dich schon verhört?« fragte sie.
    »Nein.« Seine Finger lagen kühl in ihrem Nacken, und er sprach über ihren Kopf hinweg, jedes Wort, wie es schien, mit Bedacht gewählt. »Sie glauben, ich hätte sie getötet, nicht wahr, Helen?«
    Unwillkürlich nahm sie ihn fester in die Arme.
    »Ich habe mir überlegt«, fuhr er fort, »wie sie auf den Gedanken gekommen sein können, daß ich es war. Ich kam in dein Zimmer, brachte den Cognac mit, um dich betrunken zu machen, schlief mit dir, damit mein Besuch bei dir auch einen plausiblen Grund hatte, und erstach dann meine Cousine. Warum, das wird sich noch zeigen. Es wird ihnen sicher bald etwas einfallen.«
    »Die Cognacflasche war offen«, sagte Helen leise.
    »Glauben sie, ich hätte etwas hineingetan? Mein Gott. Und du? Glaubst du das auch? Glaubst du, ich bin mit dem Vorsatz zu dir gekommen, dir ein Schlafmittel zu geben und dann meine Cousine zu ermorden?«
    »Natürlich nicht.« Helen blickte auf und sah Erleichterung in dem von Müdigkeit und Traurigkeit gezeichneten Gesicht.
    »Als ich aufstand, habe ich die Flasche aufgemacht«, sagte er. »Ich hatte ein wahnsinniges Verlangen, etwas zu trinken. Es war kaum auszuhalten. Aber dann bist du aufgewacht. Du kamst zu mir. Ich merkte, daß ich dich lieber haben wollte als den Cognac.«
    »Du brauchst mir nichts zu sagen.«
    »Ich war nahe dran, schwach zu werden. Seit Monaten ist es mir nicht mehr so gegangen. Wenn du nicht dagewesen wärst .«
    »Es spielt doch keine Rolle. Ich war da. Und ich bin jetzt da.«
    Aus dem Zimmer nebenan waren Stimmen zu hören; Lynley, laut und hitzig, gefolgt von St. James' ruhigem Gemurmel. Sie lauschten.
    »Helen, ich glaube, du wirst durch die Geschichte in einen furchtbaren Loyalitätskonflikt geraten«, sagte Rhys.
    »Das weißt du, nicht wahr? Und selbst wenn man dir unwiderlegbare Wahrheiten vor Augen führen wird, wirst du ganz allein entscheiden müssen, warum ich gestern nacht in dein Zimmer gekommen bin, warum ich bei dir sein wollte,

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