02 - Keiner werfe den ersten Stein
neu verlegten Teppich fiel. Sonst war kaum etwas da, was über die Persönlichkeit der Hausbewohnerin Aufschluß gegeben hätte. Die niedrigen Sessel und kaum kniehohen Tische verrieten allenfalls eine Neigung zum Modernen; genau wie die Kunstwerke, die Joy Sinclair zum Schmuck des Raumes ausgesucht hatte. Drei Ölgemälde im Stil Jackson Pollocks lehnten, noch auf den richtigen Platz wartend, an der Wand, und auf einem der Tische stand eine kantige Marmorskulptur unbestimmbaren Sujets.
Eine zweiflügelige Tür in der Ostwand bot Zutritt zum Speisezimmer, das ebenso spärlich und mit der gleichen Vorliebe für moderne Sachlichkeit eingerichtet war.
Lynley trat zu den beiden Fenstertüren hinter dem Eßtisch und betrachtete stirnrunzelnd die einfachen Schlösser. Selbst der ungeschickteste Einbrecher würde hier mit Leichtigkeit hereinkommen. Viel zu stehlen gab es bei Joy Sinclair allerdings nicht, es sei denn die Gemälde im Wohnzimmer waren tatsächlich Pollocks.
Barbara zog einen der Stühle heraus und setzte sich an de!Tisch. Sie legte den Poststapel vor sich hin und machte sich daran, die Briefe zu öffnen.
»Populäre Frau«, bemerkte sie und zog die Mundwinkel dabei ein klein wenig nach unten. »Da ist bestimmt ein ganzes Dutzend Einladungen dabei.«
»Hm.« Lynley warf einen Blick in den von einer Backsteinmauer umgebenen Garten hinter dem Haus, ein kleines Quadrat schneebedeckten Rasens mit einer Esche und einer runden Blumenrabatte unter dem Baum. Dann ging er weiter in die Küche.
Sie hatte die gleiche unpersönliche Avisstrahlung wie die beiden anderen Räume. Eine lange Reihe weißer Schränke, die üblichen Geräte, alle mit schwarzer Front, ein roher Fichtenholztisch mit zwei Stühlen an einer Wand, Farbtupfer an strategischen Stellen im ganzen Raum; ein rotes Kissen hier, ein blauer Teekessel dort, eine gelbe Schürze am Haken hinter der Tür. Lynley blieb an die Arbeitsplatte gelehnt stehen und sah sich um. Er hatte die Erfahrung gemacht, daß Häuser und Wohnungen auf ihre eigene Art viel über ihre Bewohner erzählten; dieses Haus jedoch schien ihm von einer bewußten Künstlichkeit, wie von einem Innenarchitekten eingerichtet, dem von einer an ihrer persönlichen Umgebung völlig desinteressierten Person freie Hand gelassen worden war. Das Ergebnis war ein Vorzeigehaus ohne jede persönliche Note.
»Eine Riesentelefonrechnung«, rief Barbara aus dem Speisezimmer. »Anscheinend hat sie die meiste Zeit mit ihren guten Freunden rund um die schöne Welt gequasselt. Sie hat sich ihre Gespräche einzeln auflisten lassen.«
»Zum Beispiel?«
»Sieben Gespräche mit New York, vier mit Somerset, sechs mit Wales und - warten Sie - zehn mit Suffolk. Bis auf zwei alle sehr kurz.«
»Alle um die gleiche Tageszeit geführt? Direk!hintereinander?«
»Nein, im Lauf von fünf Tagen. Letzten Monat. Dazwischen die Anrufe nach Wales.«
»Prüfen Sie alle Nummern.« Lynley ging durch den Flur zur Treppe, während Barbara den nächsten Umschlag aufriß.
»Hier ist was, Sir.« Sie las es ihm vor. »Joy, Sie haben sich weder auf meine Briefe noch auf meine Anrufe gerührt. Wenn ich bis Freitag nichts von Ihnen höre, muß die Sache an unsere Rechtsabteilung übergeben werden. Edna.«
Lynley blieb am Fuß der Treppe stehen. »Ihr Verlag?«
»Ja, die Lektorin. Hört sich ziemlich übel an, nicht?«
Lynley dachte an das, was er schon wußte: Die Bemerkung auf dem Band über Edna, die vertröstet werden mußte, die in Joys Terminkalender durchgestrichenen Termine in der Upper Grosvenor Street.
»Rufen Sie im Verlag an, Sergeant. Versuchen Sie, möglichst genau herauszubekommen, worum es ging. Und rufen Sie dann auch bei den anderen auswärtigen Nummern auf der ausgedruckten Liste an. Ich gehe inzwischen nach oben.«
Während im Erdgeschoß des Hauses nichts von Joy Sinclairs Persönlichkeit spürbar gewesen war, drängte sie sich dem Besucher oben mit Gewalt auf. Hier war der lebendige Mittelpunkt des Hauses, ein kunterbuntes Durcheinander persönlicher Dinge, die sich mit der Zeit angesammelt hatten und die Joy Sinclair teuer gewesen waren. Hier zeigte sich Joy Sinclair überall, in den Fotografien an den Wänden des schmalen Flurs, in dem übervollen Wandschrank, der wahllos vollgestopft war mit Dingen, die von der Wäsche bis zu steif gewordenen Malerpinseln reichten, in der Unterwäsche, die im Bad hing, selbst in der Luft, die schwach nach Körperpuder und Parfüm duftete.
Lynley ging ins
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