02 - Keiner werfe den ersten Stein
»Nichts. Müßte ich ihn kennen?«
»Joy kannte ihn. Ganz ohne Zweifel. Irene Sinclair sagte, sie habe ihn beim Abendessen erwähnt, möglicherweise im Zusammenhang mit ihrem neuen Buch. Können Sie mir darüber etwas sagen?«
Lynley beobachtete Vinneys Gesicht, wartete auf ein Zeichen des Verständnisses von dem Mann, mit dem Joy Sinclair angeblich alles geteilt hatte.
»Nein, nichts.« Er schien verlegen über dieses Eingeständnis, das in offenem Widerspruch zu seiner vorherigen Behauptung stand. »Über ihre Arbeit hat sie nicht gesprochen.«
»Hm.« Lynley nickte nachdenklich. Vinney trat nervös von einem Fuß auf den anderen und spielte mit den Autoschlüsseln. »Joy hatte einen Taschenrecorder in ihrer Handtasche. Wußten Sie das?«
»Ja. Sie hatte ihn immer bei sich. Um jeden Gedanken gleich festhalten zu können.«
»Sie sprach darauf auch von Ihnen. Fragte sich, warum sie sich Ihretwegen so in Unruhe stürze. Was glauben Sie, warum sie das getan haben könnte?«
»In Unruhe über mich?« wiederholte er ungläubig.
»›Jeremy. Jeremy. Lieber Gott, warum sich seinetwegen so in Unruhe stürzen. Es ist ja wohl kaum eine Sache fürs Leben.‹ So lauteten ihre Worte. Können Sie mir eine Erklärung dazu geben?«
Vinneys Gesicht war ruhig, doch das Flackern seiner Augen verriet ihn. »Nein. Tut mir leid. Ich habe keine Ahnung, was sie meinte. Solcher Art war unsere Freundschaft nicht. Wenigstens nicht von meiner Seite. Überhaupt nicht.«
Fünf Verneinungen. Lynley hatte den Eindruck, daß Vinney mit seinen letzten Bemerkungen das Gespräch bewußt in eine falsche Richtung gelenkt hatte. Er war kein guter Lügner. Aber er hatte ein Geschick dafür, den Moment zu nutzen. Er hatte es soeben bewiesen. Warum hatte er das getan?
»Ich will Sie nicht länger aufhalten, Mr. Vinney«, schloß Lynley. »Ich kann verstehen, daß Sie schnellstens nach London zurück möchten.«
Vinney sah ihn an, als wolle er noch etwas sagen, dann jedoch stieg er wortlos in den Wagen und drehte den Zündschlüssel. Der Motor hustete und spuckte ein paarmal, dann sprang er an, und aus dem Auspuff des Wagens stieß schwarzer Qualm in die klare Luft. Vinney kurbelte das Fenster herunter, während die Scheibenwischer den Schnee von der Windschutzscheibe fegten.
»Sie war meine Freundin, Inspector. Nichts anderes.« Er wendete den Wagen, die Reifen drehten auf einer Eisplatte durch, ehe sie im Kies griffen. Er schoß die Auffahrt hinunter zur Straße.
Lynley sah Vinney nach, verwundert über diesen Zwang des Mannes, diese letzte Bemerkung noch einmal zu wiederholen, als enthalte sie eine unterschwellige Bedeutung, die sich unter dem scharfen Blick eines Kriminalbeamten augenblicklich zeigen mußte. Aus irgendeinem Grund - vielleicht wegen der relativen Nähe von Inverness - mußte er plötzlich an Eton denken und eine leidenschaftliche Diskussion über die fixen Ideen und die Zwänge Macbeths, diese Nadelstiche des Gewissens, die ihn nach vollbrachter Tat zu seinen gequälten Bemerkungen über den Schlaf getrieben hatten. »Welches Bedürfnis dieses Mannes bleibt trotz der erfolgreichen Durchführung einer Handlung, von der er glaubte, sie würde ihm Freude bringen, ungestillt?« Der ewig auf und ab gehende Englischlehrer stellte die Frage immer wieder, um von den Jungen ihre Vermutungen und Folgerungen zu hören. »Bedürfnisse treiben zu Zwängen. Welche Bedürfnisse?« Eine sehr gute Frage, dachte Lynley.
Er zog sein Zigarettenetui heraus und ging über die Auffahrt zum Haus zurück, als Barbara Havers und St. James um die Ecke kamen. Ihre Hosenbeine zeigten Schneespuren und waren feucht, als seien sie im Schnee herumgetollt. Direkt hinter ihnen erschien Helen.
Einen peinlichen Moment lang starrten die vier einander wortlos an. Dann sagte Lynley: »Havers, rufen Sie doch bitte im Yard an. Sagen Sie Webberly, daß wir heute nach London zurückkommen.«
Barbara nickte und verschwand im Haus. Mit einem raschen Blick von Helen zu Lynley folgte St. James ihr.
»Kommst du mit uns zurück, Helen?« fragte Lynley, als sie allein waren. Er steckte sein Zigarettenetui wieder ein, ohne es geöffnet zu haben. »Es wäre bequemer. Wir werden bei Oban von einem Hubschrauber abgeholt.«
»Ich kann nicht, Tommy. Das weißt du.«
Ihre Worte waren nicht unfreundlich. Aber endgültig.
Mehr schien es zwischen ihnen nicht mehr zu sagen zu geben. Dennoch kämpfte Lynley darum, die Mauer irgendwie zu durchbrechen. Unvorstellbar, daß sie so
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