02 - Keiner werfe den ersten Stein
Schlafzimmer, ein heller Raum mit alte!Rattanmöbeln, voll bunter Kissen und überall herumliegender Kleidungsstücke. Auf dem Tisch neben ihrem ungemachten Bett stand eine gerahmte Fotografie, die er sich kurz ansah. Ein sehr schmaler, sensibel wirkender junger Mann stand am Springbrunnen im Hof des Trinity College in Cambridge. Das Gesicht, die Haltung von Kopf und Schultern hatten etwas Vertrautes. Alec Rintoul, vermutete Lynley und stellte das Bild wieder an seinen Platz. Er ging aus dem Zimmer nach vorn. Hier befand sich Joy Sinclairs Arbeitszimmer, so chaotisch wie die anderen Räume des oberen Stockwerks; schon beim ersten Anblick fragte sich Lynley, wie man in einer solchen Atmosphäre, die jeglicher Ordnung entbehrte, auch nur daran denken konnte, ein Buch zu schreiben.
Er stieg über einen Stapel Manuskripte in der Nähe der Tür und ging weiter zur Wand, wo über einem Computer zwei Landkarten aufgehängt waren. Die erste war sehr groß, eine Art Generalstabskarte von der Sorte, wie sie in Buchhandlungen an Touristen verkauft werden, die einen bestimmten Teil des Landes gründlich erkunden wollen. Sie zeigte Suffolk und Teile der angrenzenden Gebiete von Cambridgeshire und Norfolk. Joy Sinclair hatte sie offensichtlich für ihre Arbeit gebraucht; der Name eines Dorfes war durch einen roten Kreis gekennzeichnet, und etwa fünf Zentimeter entfernt war eine Stelle nicht weit vom Mildenhall Fen mit einem großen X markiert. Lynley setzte seine Brille auf, um besser sehen zu können. Porthill Green las er unter dem roten Kreis.
Es dauerte nur einen Moment, dann hatte er die Verbindung hergestellt: P. Green, der Name in Joy Sinclairs Terminkalender. Keine Person, sondern ein Ort.
Es waren noch andere Orte auf der Karte eingekreist: Cambridge, Norwich, Ipswich, Bury St. Edmunds. Die Routen, die von diesen Orten nach Porthill Green führten, waren gekennzeichnet, ebenso die Verbindung von Porthill Green zu der mit X markierten Stelle bei Mildenhall Fen. Währen!Lynley vor der Karte stand und über ihre Bedeutung nachdachte, hörte er von unten die gedämpfte Stimme Barbara Havers', die einen Anruf nach dem anderen machte und ab und zu unwillig vor sich hin schimpfte, wenn ihr eine Auskunft mißfiel oder die gewählte Nummer besetzt war.
Dann sah er sich die zweite Karte an. Joy Sinclair schien sie selbst gezeichnet zu haben, eine mit Bleistsift skizzierte Darstellung eines Dorfes, das sich auf den ersten Blick durch nichts von Tausenden anderer englischer Dörfer unterschied. Die wichtigsten Bauten waren angegeben: »Kirche, Krämer, Wirtschaft, Tankstelle«. Die Zeichnung sagte ihm nichts. Selbst wenn es sich um eine Skizze von Porthill Green handeln sollte, ging aus ihr nicht mehr hervor, als daß Joy Sinclair sich für den Ort interessiert hatte. Über den Grund dieses Interesses sagte sie nichts aus.
Lynley trat zum Schreibtisch, auf dem das gleiche heillose Durcheinander herrschte wie im ganzen Zimmer. Es war jene Art von Unordnung, die ihrem Urheber so vertraut ist, daß er alles, was er braucht, mit einem Griff findet, während jeder andere nur hilflos den Kopf schütteln kann. Bücher, Straßenkarten, Notizhefte, Blöcke und lose Papiere lagen in Stapeln herum, und dazwischen tummelten sich eine gebrauchte Teetasse, Bleistifte und Kugelschreiber, eine Heftmaschine und Salbe gegen Muskelverspannungen. Er betrachtete dies alles einige Minuten lang.
Irgendein System, dachte er, mußte diesem Chaos doch zugrunde liegen, und er brauchte nicht allzu lange, um es zu entdecken. Obwohl die Stapel von Materialien und Unterlagen insgesamt gesehen völlig willkürlich verteilt zu sein schienen, war jeder einzelne nach einer klaren Logik zusammengestellt. Einer der Bücherstapel umfaßte ausschließlich Sachmaterial: drei psychologische Fachbücher über Depression und Suizid, zwei Titel über das britische Polizeisystem. Ein anderer Stapel Unterlagen bestand aus Zeitungsausschnitten, bei denen es durchweg um Berichte über Todesfälle beliebiger Art ging. Ein dritter Stapel enthielt Reiseführer und Werbeprospekte über verschiedene Gebiete Englands, und der vierte Stapel, von beachtlichem Umfang, bestand aus vermutlich unbeantworteten Briefen.
Den sah er sich näher an, ließ die Verehrerpost beiseite, folgte einzig seinem Instinkt in der Hoffnung, etwas von Bedeutung zu entdecken. Der dreizehnte Brief gab Aufschluß.
Es war ein kurzes Schreiben von Joy Sinclairs Verlag, keine zehn Sätze lang. Wann man,
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