02 - Keiner werfe den ersten Stein
hatte, es könne genau das geschehen, was dann geschah? Kann es sein, daß sie hoffte, ich würde dafür sorgen, daß die Wahrheit ans Licht kommt? O Gott.«
Lynley gab keinen Kommentar, weder zu der offenkundigen Überzeugung des Mannes, daß die Polizei unfähig sei, die Wahrheit ans Licht zu bringen, noch zu der Selbstüberschätzung, daß er, der Journalist, es an Stelle der Polizei tun könne. Er vermerkte jedoch sehr wohl, daß Vinneys Bemerkung Lord Stinhursts Vermutung über den Grund der Anwesenheit des Journalisten überraschend nahekam.
»Wollen Sie sagen, daß sie um ihre Sicherheit fürchtete?«
»Nein, das sagte sie nicht«, bekannte Vinney aufrichtig.
»Und sie wirkte auch nicht so.«
»Warum war sie vorgestern abend in Ihrem Zimmer?«
»Sie sagte, sie wäre zu aufgedreht, um schlafen zu können. Sie hatte eine Auseinandersetzung mit Stinhurst gehabt und war dann auf ihr Zimmer gegangen. Aber sie war unruhig. Darum kam sie zu mir. Um zu reden.«
»Wie spät war es da?«
»Kurz nach Mitternacht. Vielleicht Viertel nach.«
»Worüber haben Sie gesprochen?«
»Zuerst über das Stück. Daß sie die Aufführung durchsetzen werde, ob mit oder ohne Stinhurst. Und dann über Alec Rintoul. Und Robert Gabriel. Und Irene. Die ganze Geschichte mit Irene tat ihr entsetzlich leid. Sie fühlte sich sehr schlecht deswegen. Sie - sie wollte unbedingt, daß ihre Schwester und Gabriel sich wieder versöhnten. Sie glaubte, wenn die beiden sich nur oft genug sähen, würde alles ganz von selbst seinen Lauf nehmen. Sie sagte, sie wünschte sich, daß Irene ihr verzeihe, aber sie wisse, daß es nicht dazu kommen würde. Mehr noch, glaube ich, ging es ihr aber darum, sich selbst verzeihen zu können. Und das konnte sie nicht, solange ihre Schwester und Gabriel getrennt waren.«
Der Bericht klang aufrichtig und glaubwürdig. Dennoch hatte Lynley das Gefühl, daß mehr hinter Joy Sinclairs nächtlichem Besuch bei Vinney gesteckt hatte.
»Das klingt ja fast, als sei sie eine Heilige gewesen.«
Vinney schüttelte den Kopf. »Das war sie gewiß nicht. Aber sie war eine gute Freundin.«
»Um welche Zeit kam Elizabeth Rintoul mit der Perlenkette in Ihr Zimmer?«
Vinney fegte den Schriee vom Verdeck des Morris, ehe er antwortete. »Nicht lange nach Joy. Ich - Joy wollte sie nicht sehen. Sie dachte, es würde nur wieder Krach geben, wegen des Stücks. Darum ließ ich Elizabeth nicht herein. Ich öffnete die Tür nur einen Spalt; sie konnte nicht ins Zimmer sehen. Und da ich sie nicht aufforderte hereinzukommen, dachte sie natürlich, ich hätte Joy bei mir im Bett. Das ist ziemlich typisch für sie. Elizabeth kann sich nicht vorstellen, daß es zwischen Mann und Frau ganz normale Freundschaft geben kann.«
»Wann ist Joy wieder gegangen?«
»Kurz vor eins.«
»Hat jemand sie gesehen?«
»Das glaube ich nicht. Es war niemand auf dem Flur. Es sei denn, Elizabeth schaute heimlich aus ihrem Zimmer. Oder vielleicht auch Gabriel. Mein Zimmer war zwischen den Zimmern dieser beiden.«
»Haben Sie Joy Sinclair zu ihrem Zimmer begleitet?« »Nein. Warum?«
»Dann kann es sein, daß sie nicht direkt dorthin gegangen ist. Wenn Sie, wie Sie sagten, glaubte, nicht schlafen zu können.«
»Wohin sonst hätte sie denn gehen sollen?« Im selben Moment begriff er. »Zu einem Stelldichein, meinen Sie? Nein, keiner dieser Leute interessierte sie.«
»Wenn Joy Sinclair, wie Sie sagen, nur eine Freundin war, wie können Sie dann so sicher sein, daß sie mit einem anderen Mann nicht vielleicht mehr als Freundschaft verband? Oder vielleicht auch mit einer der anwesenden Frauen.«
Bei der zweiten Bemerkung verdunkelte sich Vinneys Gesicht. Er zwinkerte einmal kurz und sah weg. »Zwischen uns gab es keine Lügen, Inspector. Sie wußte alles, und ich wußte alles. Sie hätte es mir sicher gesagt, wenn ...« Er hielt inne und seufzte. Mit einer Hand strich er sich müde über die Stirn. »Kann ich jetzt fahren? Es gibt doch nichts mehr zu sagen. Joy war meine Freundin. Und jetzt ist sie tot.«
Vinney sprach, als bestünde zwischen den beiden Tatsachen ein Zusammenhang.
Und Lynley konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob es den vielleicht wirklich gab. Der Mann selbst und seine Beziehung zu Joy Sinclair hatten seine Neugier geweckt. Er wollte das Gespräch noch nicht beenden, wählte ein anderes Thema.
»Was können Sie mir über einen Mann namens John Darrow sagen?«
Vinney senkte die Hand. »Darrow?« wiederholte er verständnislos.
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