02 - komplett
eingehender. Wo in aller Welt hat sie das gefunden, dachte er fassungslos.
„Bewundern Sie die Dame vom Dachboden?“ Es war Hesters Stimme, die seine Gedanken unterbrach.
Als er sich umwandte, führte sie gerade die Nugents herein. Erbost runzelte er die Stirn, verärgert, dass er seinen Gefühlen vor so vielen Leuten nicht Luft machen konnte – da wurde ihm bewusst, was für ein Geniestreich es eigentlich war, das Porträt aufzuhängen.
Die Geschwister waren beide erblasst, den Blick entsetzt auf das Gemälde gerichtet.
Natürlich erkannten sie Diana von dem Bild im Medaillon. Unwillkürlich strich er mit der Hand über das goldene Oval in seiner Jackentasche.
„Wer ist sie, und was ist mit dem Bild geschehen?“, fragte Sarah Nugent, die sich schneller erholt hatte als ihr Bruder.
„Ja“, warf jetzt auch Guy ein und betrachtete das Gemälde mit großem Interesse.
„Erzählen Sie uns davon, Miss Lattimer.“
„Ich weiß nichts“, erwiderte Hester mit einem Achselzucken. „Ich fand es lediglich in beklagenswertem Zustand auf dem Dachboden und stellte es, so gut ich konnte, wieder her. Aber die Dame bleibt ein Rätsel für mich.“
Die beiden Herren, die Guy mitgebracht hatte, stießen in diesem Moment dazu und Sir Jeremy sagte anerkennend: „Faszinierend.“
„Wirklich faszinierend“, wiederholte Sir Lewis, wich jedoch zurück. „Komm, Sarah, dort drüben ist Marcus Holding. Er wollte doch deine Stute erstehen, wie du dich sicher erinnerst.“
„Gut gemacht, Miss Lattimer“, meinte Sir Jeremy leise, nachdem das Geschwisterpaar gegangen war.
„Hester.“ Guy nahm ihren Arm und führte sie etwas unbeherrscht von den anderen fort. „Was hast du dir dabei gedacht? Das hätte gefährlich sein können.“
Sie lächelte nur, und er war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, sie zu tadeln und zu küssen.
„Aber sie sieht doch so wunderschön aus. Ich bin sicher, dass das Porträt genau dort über dem Kamin gehangen hat. Glauben Sie, Sie können das Gemälde richtig restaurieren lassen?“
„Ich? Das Gemälde gehört dir.“
„Oh nein.“ Hester sah ihn jetzt ernst an. „Ich bin nicht blind, Guy. Sie ist Ihre Großmutter, nicht wahr?“ Und ohne auf seine Antwort zu warten, mischte sie sich wieder unter ihre Gäste und überließ Guy seiner Verblüffung.
Hester war schon bald zu sehr mit ihren Gästen beschäftigt, um sich allzu viele Gedanken um Guy und die feindlichen Blicke zu machen, mit denen er sie ständig bedachte. Es herrschte ein solches Gedränge in ihren Salons, dass sie beruhigt davon ausgehen konnte, mit ihrer Feier einen großen Erfolg erzielt zu haben.
Die von Parrott ausgeliehenen Diener stellten Platten mit pikanten Köstlichkeiten auf den Buffettisch, und die Gäste luden sich ihre Teller voll, ließen sich ihre Gläser mit Wein füllen und nahmen an den kleinen Tischen Platz, die überall verteilt waren.
Nachdem die meisten ihre Teller geleert hatten, hob Hester den Deckel des Pianofortes, und wie nicht anders erwartet, drängten einige Mamas ihre Töchter, ihr Talent zum Besten zu geben. Und auch der Hilfspfarrer konnte überredet werden, die jungen Damen mit seinem kräftigen Bariton zu unterstützen.
So verging eine halbe Stunde angenehm mit einer fröhlichen Auswahl der bekanntesten Weichnachtslieder. Hester schlenderte von Gruppe zu Gruppe, plauderte und bot Naschwerk an, während sie versuchte, nicht daran zu denken, was Guy und seine beiden Freunde beabsichtigten. Doch bis jetzt hatten sie nicht sehr viel mehr getan, als sich behaglich zu unterhalten. Sie wartete, bis Guy in ihre Richtung schaute, und hob fragend die Augenbrauen. Er nickte kaum merklich und sah zu Sir Jeremy hinüber, der das Wort an Annabelle Redland richtete.
„Oh, Sir Jeremy, was für eine gute Idee!“, rief Annabelle begeistert. „Miss Lattimer, Sir Jeremy möchte, dass wir uns Gespenstergeschichten erzählen. Sie haben doch nichts dagegen, oder? Es klingt so aufregend und so schön gruselig.“ Sie erschauderte.
„Was meinen Sie, Miss Lattimer?“, wandte Sir Jeremy sich an Hester.
„Eine lustige Idee“, gab sie lächelnd nach. „Nur können wir hier nicht alle in einem Raum zusammensitzen. Und wir möchten doch die Gesellschaft nicht aufteilen.“
„Wie wäre es mit der Küche?“, warf Mr. Earle ein. „Soll ich nachschauen?“ Und bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er das Zimmer schon verlassen.
„Ein sehr ungestümer Mensch, aber er meint es gut“, bemerkte
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