02 - komplett
sein Bild wieder lebhaft vor Augen, und sie musste die Tränen unterdrücken, als sie an seine letzten Worte dachte. Er hatte sie an etwas erinnert, das sie selbst beinahe vergessen hätte: In der kommenden Woche feierte sie Geburtstag.
Am nächsten Morgen stand Clayton früh auf. Er hatte in der Nacht kaum ein Auge zugetan. Zum einen war ihm die Begegnung mit Ruth nicht aus dem Kopf gegangen, aber zum anderen hatte ihn eine Feier in der Gaststube gleich unter seinem Zimmer daran gehindert, Schlaf zu finden.
Clayton zog seine Taschenuhr hervor. Noch nicht einmal acht. Das hieß, dass er noch etliche Stunden herumbringen musste, bevor er sein Gepäck auf Willowdene Manor abholen und die Heimreise antreten konnte. Undenkbar, um diese Zeit bereits seine Gastgeber zu stören!
Der Grund für seine schlechte Laune war, dass er gestern sein Vergnügen der Moral geopfert hatte, und heute tat es ihm leid. Er hätte die Einflüsterungen seines Gewissens mit Nichtachtung strafen und bei Ruth bleiben sollen. Immerhin handelte es sich bei ihr nicht um eine jungfräuliche Debütantin frisch aus dem Schulzimmer, sondern um eine verwitwete Dame von fast dreißig Jahren.
Was mochte Ruth nach seinem merkwürdigen Verhalten gestern von ihm denken?
Glaubte sie, dass er lediglich mit ihr spielte, ohne wirklich an ihr interessiert zu sein?
Dabei war ihm in seinem ganzen Leben nie etwas ernster gewesen. Er wollte für Ruth sorgen, wollte sie in Samt und Seide hüllen und ihr Schmuck schenken, um ihre Augen zum Leuchten zu bringen. An seiner Seite sollte sie Bälle und festliche Diners genießen.
Er lachte bitter auf. Das war alles schön und gut – aber was er sich am sehnlichsten wünschte, war etwas ganz anderes: sie nackt neben sich im Bett zu sehen.
Was also sollte er tun? Zurückgehen und sie in Fernlea besuchen, obwohl sie nur allzu deutlich gemacht hatte, dass er sich dort nicht mehr blicken lassen sollte? Doch er wusste genau, dass sich nichts geändert hatte. Wenn er sie wieder berührte, würde sie sich erneut willig von ihm verführen lassen.
Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als sich die Tür öffnete und die Bedienung mit einem Tablett in den Frühstücksraum trat. Sie schenkte ihm aus einer silbernen Kanne heißen, duftenden Kaffee ein, um sich gleich wieder umzudrehen.
„Ich hole den Toast.“ Beim Hinausgehen wäre sie beinahe mit einem Gentleman zusammengestoßen, der soeben hereinkam. „Guten Morgen, Sir. Soll ich noch eine Tasse bringen?“
Als Gavin nickte, verschwand sie mit einem Knicks.
„Du lieber Himmel, was tust du denn in aller Herrgottsfrühe schon hier?“, stieß Clayton hervor.
„Ich erweise mich als guter Freund ... und das ist mehr, als du verdient hast, mein Lieber.“
Clayton zog eine Grimasse, doch das Lächeln siegte. Mehr war zwischen ihnen nicht nötig, um die Verstimmung vom Vortag aus der Welt zu schaffen.
Nachdem die zweite Tasse gebracht worden war und Gavin einen Schluck von dem Kaffee genommen hatte, griff er in seine Manteltasche und zog einen Brief hervor.
„Das wurde heute Morgen von einem Boten für dich abgegeben. Ich nehme an, es ist wichtig. Deshalb bin ich sofort hergekommen.“
Clayton nahm das Schreiben entgegen und warf einen Blick auf die Adresse. Die Handschrift kam ihm unvertraut vor. Also konnte der Brief nicht von Loretta stammen. Wer sonst konnte sich die Mühe gemacht haben, von seiner Dienerschaft zu erfragen, wo er sich derzeit aufhielt?
Eilig brach er das Siegel, entfaltete den Bogen und las die kurze Nachricht.
Gavin beobachtete, wie sich in seiner Miene erst Neugier, dann jäher Zorn abzeichnete. „Schlechte Nachrichten?“
Wortlos reichte Clayton ihm den Brief.
„Der Mann ist ein verdammter Narr. Schließlich trifft er noch nicht einmal auf fünfzig Fuß Entfernung ein Scheunentor.“ Gavin gab das Schreiben zurück, in dem Ralph Pomfrey in wenigen eiskalten Worten Clayton zum Duell forderte.
„Er ist ein Narr, das stimmt“, erwiderte Clayton grimmig, „aber auch ein blutiger Anfänger, der auf Rache sinnt. Und das macht ihn gefährlich.“
11. KAPITEL
„Wohin willst du fahren?“
„Nach London, meine Liebste“, erklärte Gavin seiner fassungslosen Frau. „Ich muss einfach, glaube mir. Eigentlich wollte ich dich nicht mit den Einzelheiten belasten, aber ... Clayton steckt in Schwierigkeiten, bei denen er meine Hilfe benötigt.“
Erstaunt starrte Sarah ihn an und wand sich los. „Und ich soll dir glauben, dass Sir Clayton
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