02 - komplett
Kopf und betrachtete sein Abbild in dem großen goldgerahmten Spiegel, der darüber hing. Einen Moment später senkte er voller Selbstverachtung die Lider.
Auf dem Schreibtisch standen Gläser und Karaffen bereit, und er schenkte sich großzügig Cognac ein, während er überlegte, wo er morgen nach Ralph Pomfrey suchen wollte. Doch der Gedanke entglitt ihm immer wieder. Also dachte er an das Opfer, das Gavin für ihn brachte, indem er Frau und Kind in Willowdene zurückließ, um ihm zur Seite zu stehen. Und dabei war der Säugling gerade erst von einer erschreckenden Krankheit genesen!
Die Erinnerung an die Tremaynes brachte ihn unfehlbar wieder zu Ruth Hayden zurück. Sosehr er es auch versuchte – er brachte einfach nicht mehr die Kraft auf, sie aus seinen Gedanken zu verbannen.
Was er von Keith Storey erfahren hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Ruths Leid, der tragische Tod ihres Mannes und ihrer Tochter und ihre Verbannung an den Rand der Gesellschaft ließen seine eigenen Schwierigkeiten plötzlich lächerlich erscheinen.
Captain Paul Hayden war aus Liebe zu seiner Frau und zu seinem ungeborenen Kind gestorben. Konnte es einen ehrenvolleren Tod für einen Mann geben?
Er selbst würde sehr bald, möglicherweise schon in dieser Woche, sein eigenes Leben aufs Spiel setzen – oder das eines anderen beenden. Und wofür?
Überwältigende Scham stieg in ihm auf. Er hatte sich von Loretta zur Marionette machen lassen, obwohl er von vornherein von ihrem Ruf gewusst hatte, nichts als eine habgierige Kurtisane zu sein. Schon während sie seine Mätresse war, brachte er ihr gemischte Gefühle entgegen: Sosehr ihn ihre Sinnlichkeit auch reizte, sosehr stießen ihn ihre Lügen ab. Loretta hatte nicht gewusst, dass ihn ihre Geldnöte und ihre Tändeleien mit anderen Männern kaltließen. Geld besaß er genug, und da er sie nicht liebte, fand er auch keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Sie hätte ihm also nichts vormachen müssen – und tat es trotzdem.
Irgendwann hatte ihre Falschheit schwerer gewogen als das Begehren, das sie in ihm auslöste. Und genau das hätte er von Anfang an ahnen können. Warum hatte er sich überhaupt mit ihr eingelassen? Schon vor ihrer Affäre hatte er genügend Erfahrung mit solchen Frauen gesammelt. Er hatte wegen einer lügnerischen Kurtisane sogar bereits ein Duell gefochten – nur dass diese damals mit ihm verheiratet war. Priscilla Winslow war Loretta Vane an Durchtriebenheit in nichts nachgestanden.
An jenem Morgen war es zwischen ihm und dem Grafen Giovanni Montesso zu einem erbitterten Gefecht gekommen. Nur knapp hatte er den Sieg davongetragen, und die Narben trug er noch heute. Damals schenkte er dem Italiener das Leben –
und, sehr zu Priscillas Ärger, seine Frau. Durch das Duell und die Entschlossenheit, mit der er die Scheidung verlangte, war er in ihren Augen erneut begehrenswert geworden. Aber es war zu spät. Nach zehn Monaten der Schmerzen und Demütigungen, in denen er sich von seiner Frau auslachen und von seinen Bekannten verspotten lassen musste, war seine Liebe zu Priscilla gestorben. Als sie mit dem Grafen in Richtung Italien abreiste, verspürte er nichts so sehr wie Erleichterung. Bei der Erinnerung an jene Geschehnisse verzog Clayton bitter die Lippen.
Die Ehe war von Anfang an ein Fehler gewesen. Aber mit zweiundzwanzig und bis über beide Ohren verliebt, hatte er sich bereit gefühlt, den Bund fürs Leben zu schließen. Seine Affäre mit Loretta dagegen war er ohne jedes zärtliche Gefühl, ohne jede ehrenvolle Absicht eingegangen. Wenn er nun darüber nachdachte, zweifelte er sogar daran, dass er überhaupt jemals Zuneigung für seine ehemalige Geliebte verspürt hatte.
Clayton leerte den Rest Cognac in einem Zug. Die Leichtigkeit, mit der er sein Herz von seinen niederen Trieben trennen konnte, stieß ihm plötzlich bitter auf.
Plötzlich stand ihm Ruths fein geschnittenes Gesicht wieder vor Augen, und in diesem Augenblick wurde ihm etwas klar: Er wusste nun, warum er trotz seines übermächtigen Verlangens gegangen war, statt zu bleiben und Ruth Hayden nach allen Regeln der Kunst zu verführen. Einen kurzen Moment lang gestattete er sich, die Augen zu schließen, und glaubte sofort wieder ihre Lippen auf seinen zu spüren.
Wie verführerisch sie ihre weichen Rundungen an ihn gepresst hatte, wie seidenweich sich ihr Haar unter seinen Fingern angefühlt hatte ... Und in ihren braunen Augen hatte ein unverhohlen sinnlicher Ausdruck gestanden.
Mit
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