02 - komplett
und sah sich Schützenhilfe heischend unter seinen Kumpanen um. „Oder wollen Sie etwa behaupten, Sie hätten gar nicht versucht, sie ihm vor der Nase wegzustehlen?“
„Wer muss denn stehlen, was jedem frei angeboten wird?“ Dem Einwurf aus den hinteren Rängen der Zuschauer folgte eine Welle des Gelächters.
„Frei? Na, ich weiß nicht. Mich hat die Dame ein kleines Vermögen gekostet“, äußerte ein anderer mit gespielter Zerknirschtheit.
„Und als es weg war, hat sie dir den Rücken gekehrt.“ Auch diese Bemerkung wurde mit Gejohle quittiert.
„Und jetzt kann Pomfrey nachvollziehen, wie sich das anfühlt.“ Die allgemeine Heiterkeit ebbte etwas ab, als den Gentlemen bewusst wurde, dass es in dieser Angelegenheit möglicherweise bald um Leben und Tod ging.
Clayton wandte sich wieder zur Tür. Zwar fühlte er sich keineswegs verpflichtet, in diesen Kreisen Lorettas Ruf zu verteidigen. Schließlich hatte sie auf geradezu schamlose Art und Weise Intrigen gesponnen, um ihn zur Ehe zu zwingen. Dennoch widerstrebte es seinem Ehrgefühl, sich mit diesen Männern gemein zu machen und ihren hämischen Bemerkungen weiter zuzuhören.
Doch schon im nächsten Moment gestand er sich ein, dass ihn das Gerede auch selbst an einer empfindlichen Stelle traf. Er stand kein bisschen besser da als die anderen Herren, die von Lady Loretta Vane an der Nase herumgeführt worden waren. Als er ihr carte blanche gab, wusste er um ihren Ruf. Dennoch hatte er ihren Verführungskünsten nachgegeben und sie aus purer Wollust zu seiner Mätresse gemacht.
„Jeder hier weiß, dass Loretta lügt.“ Claytons Freund Keith Storey hatte mit ihm das Palm House verlassen und war auf die Straße getreten. Gemeinsam standen sie unter einer Gaslaterne. „Und bestimmt ahnt das auch Pomfrey tief im Innern seines Herzens. Seit Tagen hat ihn kein Mensch mehr zu Gesicht bekommen. Ich wette, dass er seine rasche Handlung schon bereut. Aber er befand sich in einer verdammt unangenehmen Lage. Kaum jemand hier hat Mitgefühl mit ihm. Was kann nur in ihn gefahren sein, dieser Glücksritterin jemals einen Antrag zu machen? Schließlich konnte auch ein Blinder sehen, dass sie immer noch hinter dir her war. Sobald offenbar wurde, dass er vollkommen abgebrannt ist, wusste jeder, dass die Sache nicht gut gehen kann.“
Clayton konnte nur zustimmend nicken.
„Du weißt, dass ich dir herzlich gerne als Sekundant zur Seite stehe, wenn es so weit kommt.“ Aufmunternd packte Keith Storey den Freund am Arm.
„Ich hoffe immer noch, dass sich ein Duell abwenden lässt“, erwiderte Clayton und wollte sich verabschieden. Doch plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf –
oder vielleicht hatte er dort auch schon länger gelauert. Denn trotz der Aufregung um Loretta und Pomfrey verging kaum eine Minute, in der Clayton nicht an Ruth denken musste.
„Ich glaube, du bist mit Mrs. Hayden bekannt. Kürzlich bin ich ihr bei den Tremaynes begegnet, und sie erzählte, dass sie früher in eurer Nachbarschaft in der Willoughby Street wohnte.“
Keith runzelte die Stirn und murmelte den Namen vor sich hin.
„Ruth Hayden“, ergänzte Clayton, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.
„Ach ja, natürlich ... Ruth Hayden, geborene Sanderson!“ Keith setzte ein breites Grinsen auf. „Ein nettes Mädchen. Wenn dieser Hayden mir nicht zuvorgekommen wäre, hätte ich ihr womöglich noch selbst einen Antrag gemacht.“
„Wusstest du, dass sie inzwischen verwitwet ist?“
Das Lächeln wich einem ernsten Gesichtsausdruck. „Ja. Die arme Ruth kann nicht älter als neunzehn gewesen sein, als ihr Mann erschossen wurde. Der Skandal hat ihren Eltern das Herz gebrochen. Sie sind dann aufs Land gezogen.“
„Was für ein Skandal?“, fragte Clayton. „Ist Hayden denn nicht im Krieg gefallen?“
„Doch, das schon, aber nicht durch die Kugel eines Feindes. Ich kannte Paul Hayden persönlich, und von keinem Menschen kann ich mir weniger vorstellen, dass er ein Feigling gewesen sein soll.“
„Er wurde von einem Kriegsgericht verurteilt?“ Clayton konnte es nicht glauben.
„Nun ja, ich nehme an, heute darf man offen darüber sprechen. Schließlich ist es lange her, auch wenn sich damals alle Klatschmäuler auf die Geschichte gestürzt haben. Captain Paul Hayden wurde 1815 als Deserteur hingerichtet ... in der Nähe von Brüssel, glaube ich. Obwohl Ruth ein Kind erwartete, war sie ihm gefolgt. Man hat ihm den Prozess gemacht, weil er sich von der
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