02 - komplett
ohne ihr Zutun nichts von alledem geschehen wäre. Und ihr Gewissen ließ es nicht zu, einfach mit anzusehen, wie zwei Gentlemen sich ins Verderben stürzten.
Als sie Gavin und Sarah erklärt hatte, sie wolle nicht mit ihnen essen, sondern müsse noch ausgehen, hatten die beiden einen wissenden Blick gewechselt. Trotzdem versuchten sie nicht, sie aufzuhalten. Sarah hatte ihr angeboten, sie zu begleiten, Ruth jedoch darauf bestanden, allein zu gehen. Sie hatte allerdings Gavins nachdrückliches Angebot angenommen, sich einer seiner Kutschen zu bedienen.
Um sieben Uhr abends machte Ruth sich in einer eleganten Chaise, die das Wappen der Tremaynes auf dem Schlag trug, auf den Weg zum Berkeley Square. Ihr gegenüber saß eines von Sarahs Dienstmädchen.
Als der Kutscher die Pferde zügelte, erklärte Ruth ihrer jungen Begleiterin, sie solle warten. Sie hatte nicht vor, lange zu bleiben. Trotzdem zögerte sie, bevor sie den Schlag öffnete. Beim Anblick des imposanten Stadthauses musste sie all ihre Entschlossenheit zusammennehmen, um dem Kutscher nicht zu sagen, er möge umkehren. Sie straffte die Schultern. Pure Feigheit sollte sie nicht von dem abhalten, was sie tun musste. Sie öffnete den Schlag und stieg aus.
„Aha, Mrs. Hayden! Sir Clayton erwähnte, dass Sie eventuell kommen würden.“
Diese höflichen, aber vollkommen unerwarteten Willkommensworte warfen Ruth beinahe aus der Bahn. Überrascht sah sie den Butler an. „Sir Clayton erwartet mich?“, fragte sie schwach.
Hughes lächelte lediglich und trat beiseite, um die Besucherin einzulassen, bevor der Wind ihr den Hut vom Kopf wehen konnte.
„Hier entlang, bitte. Sir Clayton dürfte in der Bibliothek zu finden sein. Jedenfalls sah ich ihn vor nicht allzu langer Zeit dort hineingehen.“
Klopfenden Herzens folgte Ruth dem älteren Mann, aber sie konnte sich nicht enthalten, ein paar neugierige Blicke um sich zu werfen. Kühler weißer Marmor und warme Mahagonitäfelung verrieten den erlesenen Geschmack und den Reichtum des Bewohners. Unwillkürlich verzog Ruth das Gesicht. Undenkbar, dass sie jemals Herrin über solche Pracht sein sollte! Vor einem goldgerahmten venezianischen Spiegel blieb sie bewundernd stehen und erhaschte dabei einen kurzen Blick auf sich selbst: Riesige dunkle Augen schauten ihr angstvoll aus einem blassen Gesicht entgegen. In diesem Moment öffnete Hughes eine Tür.
„Hier ist er nicht“, erklärte der Butler verblüfft. Trotzdem hielt er Ruth die Tür offen und sagte: „Vielleicht möchten Sie in der Bibliothek warten, Mrs. Hayden. Ich suche Sir Clayton.“
„Danke“, murmelte sie.
„Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?“
Doch Ruth schüttelte den Kopf. Nachdem sie allein geblieben war, löste sie die Schleife ihres Hutbands und nahm den Hut ab. Zögernd ging sie ein paar Schritte vorwärts, um sich dann staunend umzuschauen. Tausende von Büchern standen ordentlich aufgereiht in kostbaren Bücherschränken, die bis zur hohen Decke reichten: einige davon riesige Folianten, andere klein und handlich mit deutlichen Benutzungsspuren. In der Mitte der Bibliothek warteten drei Eichentische darauf, dass man schwere Bände auf ihnen ablegte. Sie waren mit dunkelrotem Leder bezogen, das genau zu dem dicken Teppich passte. Auf einem der Tische lagen ein paar Bücher verstreut, als hätte jemand sie aus den Regalen genommen, gelesen, aber noch nicht zurückgestellt.
Auf dem dritten Tisch stand ein geöffnetes Holzkästchen. Einen Augenblick lang schien ihr das Herz stehen bleiben zu wollen. So ein Kästchen hatte sie schon einmal gesehen. Ihr Vater hatte Duellpistolen besessen ...
Plötzlich fühlten sich ihre Hände feucht und kalt an, und sie wischte sie am Rock ab, bevor sie näher trat. Tatsächlich: Auf dunkelblauem Samt lagen zwei identische Waffen. Selbst für ein ungeschultes Auge wie das ihre waren sie eindeutig als sehr teure Duellpistolen zu erkennen. Zögernd streckte sie eine Hand aus und berührte die silbernen Beschläge. Das Metall schien tödliche Kälte zu verströmen. Im Gegensatz dazu fühlte sich das polierte Holz weich und warm an. Vorsichtig hob sie eine der beiden Pistolen heraus.
„Hast du vor, sie zu benutzen?“
Die Waffe noch umklammert, fuhr Ruth herum. „Und du? Hast du vor, damit auf Dr.
Bryant zu schießen?“
Clayton ließ sich mit der Antwort Zeit. Während er langsam auf Ruth zuschlenderte, hatte sie Gelegenheit, ihn ausgiebig zu betrachten. Noch nie hatte sie ihn in so
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