02 - komplett
verzog lediglich das Gesicht. Im selben Augenblick ertönte Hufgetrappel, und kurz darauf tauchten die Umrisse einer weiteren Kutsche aus dem Morgennebel auf.
„Es ist Francis Wells“, äußerte Clayton zu Gavin. Aber der reagierte kaum. Er war immer noch damit beschäftigt, eine Stelle zu finden, auf der der Boden weniger vereist war. Doch die bleiche Scheibe der Wintersonne war gerade erst über den Horizont gestiegen, und ihren Strahlen fehlte noch die Wärme, den Raureif zum Verschwinden zu bringen.
Inzwischen war der Arzt herangekommen und begrüßte die Männer. Sie hatten gerade erst ein paar höfliche Worte gewechselt, als die dritte Kutsche heranratterte und auf der anderen Seite der Lichtung zum Stehen kam. Dr. Bryant stieg aus, dicht gefolgt von einem Mann, dessen Kleidung auf einen Blick den Dandy verriet.
„Wusstest du, dass Dr. Bryant mit Claude Potts befreundet ist?“, erkundigte Gavin sich erstaunt.
„Ich bezweifle, dass man von Freundschaft sprechen kann. Vermutlich kennt Bryant ihn kaum, sonst hätte er nicht ausgerechnet das schlimmste Klatschmaul von ganz London als Sekundanten gewählt. Jetzt können wir sicher sein, dass diese Angelegenheit bis heute Nachmittag alle anderen Gesprächsthemen in den Klubs und Salons verdrängt haben wird.“
Die Freunde beobachteten, wie Bryant und Potts ebenfalls kritisch den vereisten Boden beäugten und beratschlagten. Es überraschte Clayton nicht, dass Potts kurz darauf zu ihnen herüberkam.
„Gentlemen“, grüßte er mit einer gezierten Verbeugung. „Dr. Bryant wünscht die Wahl der Waffen rückgängig zu machen und doch mit Pistolen zu kämpfen, wenn Sie einverstanden sind, Sir Clayton. Der gefrorene Boden könnte sich beim Fechten als trügerisch erweisen.“
„Ich habe nichts dagegen“, stimmte Clayton zu. „Haben Sie zufällig Pistolen mitgebracht, oder sollen wir meine nehmen?“
Mr. Potts stammelte etwas Unverständliches. Offenbar hatte er nicht so vorausschauend gehandelt wie Clayton, der nach einem Blick auf das Wetter das Kästchen mit den Duellpistolen eingepackt hatte. Dankbar nickend nahm Potts das Angebot an und kehrte zu Dr. Bryant zurück.
Er war dort noch nicht angekommen, als zum vierten Mal das Geräusch von Rädern die Stille des Beech Common zerriss. Ein Landauer kam in halsbrecherischer Geschwindigkeit heran und hielt in der Mitte der Lichtung. Ihm entstiegen etliche Gentlemen, die aussahen, als hätten sie die Nacht nicht im Bett, sondern über etlichen Flaschen Brandy verbracht. Einer von ihnen löste sich aus der Gruppe und kam auf Clayton und Gavin zu.
„Dann hat Potts also schon gestern getratscht“, murmelte Clayton, als er Ralph Pomfrey erkannte.
Eifrig ergriff Pomfrey Sir Claytons Hand und schüttelte sie. „Verdammt fischige Angelegenheit, Powell, wenn Sie mich fragen. Wenn Sie Unterstützung brauchen –
immer gerne ...“
Clayton entzog ihm seine Rechte und antwortete kurz angebunden: „Wenn Sie sich nützlich machen wollen, dann sorgen Sie dafür, dass Ihre Freunde uns aus dem Weg gehen.“ Ein Blick zu Gavin, und die Freunde wandten Pomfrey den Rücken zu und gingen zu den Kontrahenten hinüber.
„Die ganze Sache wird langsam zur Farce“, murmelte Gavin.
„Das stimmt. Aber täusche dich nicht: Bryant ist es tödlicher Ernst.“
„Und dir?“, erkundigte Gavin sich betont beiläufig.
„Hol die Pistolen.“
19. KAPITEL
„Hast du die ganze Nacht hier verbracht?“, fragte Sarah leise, als sie Ruth voll bekleidet in einem Sessel vorfand.
Ruth nahm sie nur wie durch einen Schleier hindurch wahr, und es kostete sie Mühe, die Frage zu beantworten. „Ich bin vor einer Stunde aufgewacht.“
„Dann hast du also wenigstens ein bisschen geschlafen?“ Sarah schloss die Schlafzimmertür hinter sich.
Ruth nickte. „Ein bisschen.“ Zu ihrer eigenen Überraschung war sie für einige Stunden in einen tiefen, traumlosen Schlaf der Erschöpfung gefallen, bevor sie plötzlich erwacht war und erschrocken in die Dunkelheit geblinzelt hatte.
Augenblicklich waren die schrecklichen Erinnerungen zurückgekehrt und hatten sie daran gehindert, noch einmal ein Auge zuzutun. Seitdem hatte sie am Fenster gesessen und auf Nachrichten von dem Ausgang des Duells gewartet. Aber obwohl die Sonne inzwischen hell leuchtete, waren weder Clayton noch Gavin aufgetaucht.
„Schon neun Uhr! Männer sind egoistische, grausame Dummköpfe!“ Zornig sprang Ruth auf und lief im Zimmer auf und ab.
Sarah erwiderte sanft:
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