02 - Schatten-Götter
auf. Die Göttin klingt so … so grausam und erbarmungslos. Hat sie jemals unsere Gebete um Gnade und Barmherzigkeit und Frieden gehört?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Alael ruhig.
Die Äbtissin stand seufzend auf. »Wissen ist kein Glaube. Was das Wissen angeht, können wir höheren Schwestern nur der Tatsache der Gabe der Göttin gewiss sein.« Sie öffnete die Hand mit der Handfläche nach oben. Eine glühendweiße Flamme flackerte auf. Alael wusste instinktiv, dass dieses winzige magische Feuer von der Macht der Erden-Mutter herrührte. Sie konnte sie fast schmecken.
Die Hand schloss sich und erstickte den kleinen goldenen Schein.
»Die Gabe ist selten und wird von den Schwestern des Tempels geheim gehalten«, erklärte Äbtissin Halimer. »Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr davon absehen würdet, darüber zu sprechen.«
Alael und Keren murmelten zustimmend.
»Und jetzt, Alael, steht auf und kleidet Euch an. Wir werden uns in einer Stunde in der Versammlungskammer des Konklave im Erdgeschoss treffen.«
Als die Äbtissin hinausschritt, erinnerte sich Alael an den Grund für diese Versammlung. Natürlich, heute reiste die Delegation nach Dalbar ab. Gilly, Medwin und …
Keren unterbrach ihre Gedanken. »Du hast es vergessen, Schwesterlein, oder?« Die Schwertkämpferin hatte die Arme vor der Brust verschränkt und warf ihr einen gespielt missbilligenden Blick zu, der jedoch rasch unter ihrem herzlichen Lächeln schmolz.
»Nicht vergessen, unvergleichliche große Schwester!«, widersprach Alael. »Ich war nur ein wenig abgelenkt.« »Kein Wunder.« Keren stand auf. »Komm, ich helfe dir, ein Gewand auszusuchen, mit dem du unseren jugendlichen Kaiser ablenken kannst.«
Alael bemühte sich vergeblich um eine aufgebrachte Miene. Kerens Bemerkungen waren zumeist gleichzeitig bissig und treffend.
Die beiden Frauen waren sich vorgestellt worden, kurz nachdem Alael sich von der schrecklichen Besessenheit während der Schlacht erholt hatte. Es hatte sie überrascht, dass Kerens Leiden ihrem so ähnlich war, und sie hatte anfänglich zurückhaltend reagiert. Doch als die beiden Frauen schließlich Ihre Erfahrungen geteilt hatten, begann sich die aufkeimende Freundschaft zwischen ihnen rasch zu vertiefen.
Jetzt trug Alael ein braunrotes Kleid, das erheblich sittsamer war als das, welches Keren vorgeschlagen hatte, und eilte mit ihrer Gefährtin durch ein schmales Treppenhaus, dessen Wandfliesen Umrisse von Seekreaturen darstellten. Unterwegs erkundigte sich Alael bei Keren, ob sie Näheres über den Anschlag auf ihr Leben herausgefunden hatte.
»Nichts von Bedeutung. Die Frau, die mich töten wollte, war eine Schauspielerin, die vor über einer Woche von einer Bettlertruppe verschwunden ist. Bardow ist sich gewiss, dass jemand die Niedere Macht benutzt hat, um einen Zwang auf ihren Verstand zu legen, vermutlich dieselbe Person, die Nerek im Handwerkerviertel angegriffen hat.«
»Hat denn keiner der Höheren Magier etwas von diesen Vorgängen bemerkt?«
Sie überquerten einen kleinen Hof, in dem Lieferanten ihre Wagen entluden, und Keren senkte die Stimme. »Niemand. Bardow glaubt, dass die Person, die hinter all dem steckt, möglicherweise ihren Missbrauch der Niederen Macht mit einer anderen Magie getarnt hat…«
»Dem Brunn-Quell?«, flüsterte Alael furchtsam.
Keren zuckte mit den Schultern. »Es wäre die naheliegendste Erklärung…«
Von dem lichtdurchfluteten äußeren Flur gelangten sie in die Versammlungskammer im Erdgeschoss, einen entfernt dreieckigen Raum, in dem Bänke und Armstühle mit hohen Lehnen vor einem Podest an dem schmalen Ende aufgebaut waren. Als Keren zu Medwin und Gilly ging, die bereits neben ihrem Gepäck warteten, das auf dem Podest aufgebaut war, begriff Alael endlich, dass ihre Freundin sich von ihr trennen würde. Auf den Bänken warteten bereits vertraute Gesichter, wie das von Lordregent Yasgur, neben ihm seine Ratgeber Atroc und Ghazrek, Nerek, die blass und unbeteiligt aussah, die rothaarige Magierin Fionn und einige ihrer Magierkollegen, Yarram, der Lordkommandeur der Ritter des Vater-Baums, der zwischen den Kommandeuren der neuen Orden saß. Hinzugekommen waren die Ritter vom Orden der Gestirne, die Ritter der Wacht und der Orden der Bannerritter. Tauric war ebenfalls da, begleitet von drei seiner Weißen Gefährten. Es war eine kurze Abschiedszeremonie, die dennoch voller Wärme und Respekt vonstatten ging. Äbtissin Halimer sang mit zwei Tempelschwestern eine
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