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02 Titan

02 Titan

Titel: 02 Titan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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und ausgebleicht. Doch wie auch ich mich noch klar ausdrücken kann, so lässt auch sie sich noch klar entziffern, und wenn ich sie dicht vor die Augen halte, erklingt in meiner Erinnerung deutlich Caesars schnarrende Stimme: »Auf meinen Schutz kannst du dich immer verlassen …«
    Während der gut einen Stunde, in der ich schrieb, trafen Ciceros Gäste ein und versammelten sich zum Abendessen. Als ich fertig war, legte ich mich auf meine schmale Pritsche und dachte über das Geschehene nach. Ich gebe unumwunden zu, dass ich mich unwohl fühlte, die Nervenstärke, die für eine Rolle im öffentlichen Leben unerlässlich ist, war mir nämlich von Natur aus nicht gegeben. Ich wäre mit einem Leben auf dem Landgut der Familie rundum zufrieden gewesen. Ich hatte immer davon geträumt, selbst einen kleinen Hof zu besitzen, auf den ich mich zurückziehen und schreiben könnte. Ich hatte etwas Geld gespart und insgeheim gehofft, Cicero würde mich in die Freiheit entlassen, sobald er das Amt des Konsuls errungen hatte. Doch die Monate waren verstrichen, und er hatte mit keinem Wort davon gesprochen. Ich war schon über vierzig Jahre alt und fürchtete, dass ich als Sklave sterben könnte. Der letzte Abend des Jahres ist oft einer voller Melancholie. Janus schaut sowohl zurück als auch nach vorn, und manchmal erscheint einem beides gleich unerfreulich. An jenem Abend allerdings war mein Selbstmitleid besonders groß.
    Wie auch immer, ich hielt mich bis in die späten Abendstunden von Cicero fern, und als ich der Meinung war, das Essen müsse jetzt bald vorüber sein, ging ich zum Speisezimmer und postierte mich so neben der Tür, dass er mich
sehen konnte. Das Speisezimmer war ein kleiner, aber angenehmer Raum, dessen Wände erst kürzlich mit frischen Fresken versehen worden waren, die den Gästen den Eindruck vermittelten, sie befänden sich in Ciceros Garten in Tusculum. Neun Personen waren um den Tisch gruppiert, drei auf jedem Speisesofa – die ideale Zahl. Wie Cicero vorausgesagt hatte, war Postumia gekommen. Sie trug eine um den Hals offene Tunika und schien aufgeräumter Stimmung zu sein, ganz so, als hätte es die Peinlichkeit des Nachmittags nie gegeben. Neben ihr lag ihr Mann Servius, einer von Ciceros ältesten Freunden und der angesehenste Jurist Roms: keine geringe Leistung in einer Stadt voller Anwälte. Sich in die Juristerei zu vertiefen ist jedoch wie ein Bad in eiskaltem Wasser – erfrischend in Maßen, erschlaffend, wenn man es übertreibt. Und Servius war über die Jahre immer gebückter und misstrauischer geworden, während Postumia eine Schönheit geblieben war. Dennoch hatte er noch seine Anhänger im Senat, und das Feuer seines Ehrgeizes – wie das ihre – brannte kräftig. Er plante, sich im Sommer selbst um das Konsulat zu bewerben, und Cicero hatte versprochen, ihn dabei zu unterstützen.
    Länger noch als mit Servius war Cicero mit Titus Pomponius Atticus befreundet. Er lag neben seiner Schwester Pomponia, die mit Ciceros jüngerem Bruder Quintus verheiratet war. Sie führten wahrlich keine gute Ehe, und der arme Quintus hatte anscheinend vor ihren zänkischen Sticheleien wie üblich Zuflucht im Wein gesucht. Der letzte Gast war der junge Marcus Caelius Rufus, ein früherer Schüler Ciceros, der die Anwesenden mit einer Flut von Witzen und Geschichten unterhielt. Cicero selbst lag zwischen Terentia und seiner geliebten Tullia, er lachte über Rufus’ Klatschgeschichten und gab sich derart ausgelassen, dass niemand auf den Gedanken gekommen wäre, ihn bedrücke auch nur eine einzige Sorge. Doch dies gehört zu den Kunstgriffen des erfolgreichen
Politikers: gleichzeitig immer mehrere Dinge auf Abruf im Kopf zu behalten und je nach Bedarf zwischen ihnen hin- und herzuspringen. Sonst wäre das Leben unerträglich gewesen. Nach einer Weile schaute er in meine Richtung und nickte. »Meine Freunde«, sagte er so laut, dass seine Stimme das allgemeine Geplauder übertönte, »es ist schon spät, und Tiro erinnert mich gerade daran, dass ich morgen eine Antrittsrede zu halten habe. Manchmal denke ich, er sollte der Konsul sein und ich sein Sekretär.« Alle lachten und schauten mich an. »Meine Damen«, fuhr er fort, »ich bitte um Verzeihung, aber ich würde die Herren gern noch für einen Augenblick in mein Arbeitszimmer entführen.«
    Er tupfte sich die Mundwinkel mit seiner Serviette ab, warf sie auf den Tisch, stand auf und reichte Terentia die Hand. Sie nahm sie und lächelte ihn an, was

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