02 Titan
öffnete ihren Umhang und ließ ihn zu Boden fallen. Darunter war sie nackt. Die geschmeidige, eingeölte Haut glänzte dunkel im Kerzenlicht. Ich stand fast direkt hinter ihr. Sie wusste, dass ich alles sah, doch kümmerte sie meine Anwesenheit nicht mehr als die eines Tisches oder Schemels. Die Luft schien zu stocken. Cicero stand vollkommen reglos da. Wenn ich daran zurückdenke, muss ich an den Vorfall im Senat denken, als im Chaos nach der Verschwörerdebatte ein einziges Wort oder eine einzige Geste der Zustimmung gen ügt hätte, und Caesar wäre tot gewesen, und die Welt heute – unsere Welt – wäre eine völlig andere. Genauso war es jetzt. Nach einer langen Pause schüttelte er kaum merklich den Kopf. Dann bückte er sich, hob den Umhang auf und hielt ihn ihr hin.
»Zieh das wieder an«, sagte er ruhig.
Sie ignorierte ihn. Stattdessen legte sie die Hände auf ihre Hüften. »Du ziehst diesen frömmelnden alten Besenstiel wirklich mir vor?«
»Ja.« Er schien selbst überrascht von seiner Antwort zu sein. »Wenn du mich so fragst, ja, ich glaube schon.«
»Was bist du doch für ein Idiot«, sagte sie und drehte sich um, so dass Cicero ihr den Umhang über die Schultern legen konnte. Sie bewegte sich so zwanglos, als verabschiedete sie sich von einer Abendgesellschaft. Sie merkte, dass ich sie anschaute, und warf mir einen Blick zu, worauf ich sofort die Augen niederschlug. »Du wirst an diesen Augenblick noch denken«, sagte sie und schloss schnell ihren Umhang. »Du wirst ihn dein Leben lang bereuen.«
»Nein, das werde ich sicher nicht, weil ich ihn nämlich aus meinem Gedächtnis streichen werde, und das Gleiche empfehle ich auch dir.«
»Warum sollte ich ihn vergessen wollen?« Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Mein Bruder wird sich ausschütten vor Lachen, wenn er die Geschichte hört.«
»Du hast vor, ihm das zu erzählen?«
»Aber sicher, es war schließlich seine Idee.«
»Kein Wort«, sagte Cicero, nachdem Clodia gegangen war. Er hielt warnend eine Hand hoch. Er wollte nicht darüber reden, und das haben wir auch nie getan. Gerüchte, dass da irgendetwas zwischen den beiden vorgefallen sei, machten viele Jahre lang die Runde, aber ich habe mich immer geweigert, diesen Klatsch zu kommentieren. Ich habe das Geheimnis ein halbes Jahrhundert lang bewahrt.
Ehrgeiz und Wollust sind oft miteinander verwoben. Bei manchen Männern, wie Caesar und Clodius, so fest wie die Fasern eines Seils. Bei Cicero war das Gegenteil der Fall. Ich glaube, dass auch er eine leidenschaftliche Ader hatte, aber sie machte ihm Angst. Wie sein Stottern, seine kränkliche Jugend oder seine schwachen Nerven betrachtete er Leidenschaft
als einen Nachteil, den es durch Disziplin zu überwinden galt. Er lernte, diesen Zug seines Wesens abzuspalten und ihm aus dem Weg zu gehen. Aber die Götter sind unerbittlich. Entgegen seinem Vorsatz, nichts mehr mit Clodia und ihrem Bruder zu tun haben zu wollen, wurde er schon bald in den immer wilderen Strudel des Skandals hineingerissen.
Nach so langer Zeit ist es kaum nachzuvollziehen, wie sehr der Bona-Dea-Skandal das öffentliche Leben beherrscht hat. So sehr, dass schließlich sogar die Regierungsgeschäfte zum Erliegen kamen. Oberflächlich betrachtet, war Clodius’ Fall hoffnungslos. Es war ganz simpel: Er hatte dieses groteske Delikt begangen, und beinah der gesamte Senat war fest entschlossen, ihn dafür zu bestrafen. Aber manchmal verwandelt sich in der Politik eine große Schwäche in eine Stärke, und in dem Augenblick, als Lucullus’ Antrag durchgegangen war, begann das römische Volk zu murren. Was hatte sich der Bursche denn zuschulden kommen lassen, außer dass er vor lauter Lebenslust über die Stränge geschlagen hatte? Sollte man einen Jungen zu Tode prügeln lassen, bloß weil er sich einen Jux erlaubt hatte? Als Clodius sich wieder auf das Forum traute, stellte er fest, dass die Bürger Roms ihn nicht nur nicht mit Schmutz bewerfen, sondern ihm sogar die Hand schütteln wollten.
Es lebten immer noch Tausende von unzufriedenen Plebejern in Rom, die die wiedererstarkte Macht des Senats mit Missfallen sahen und nostalgisch auf die Tage zurückblickten, als in den Straßen noch Catilina herrschte. Clodius zog diese Leute massenweise an. Sie drängten sich in Scharen um ihn, und er gewöhnte sich an, auf den nächsten Wagen oder Marktstand zu springen und über den Senat herzuziehen. Er hatte bei Ciceros politischen Kampagnen gut aufgepasst: Halte deine
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