02 Titan
schleuderte Cicero weitere Beleidigungen ins Gesicht. »Du hast dich damals wie ein Tyrann aufgeführt, und das tust du auch heute noch!« Er wandte sich mit aufstachelnden Gesten an seine Anhänger auf dem Forum. Und die ließen sich nicht lange bitten. Fast wie ein Mann drängten sie nach vorn und fingen an zu randalieren. Erneut prasselten Wurfgeschosse auf das Podium. Zum zweiten Mal an
diesem Morgen kamen die Geschworenen Cicero zu Hilfe, stellten sich schützend um ihn und schirmten seinen Kopf ab. Der Stadtprätor rief Curio die Frage zu, ob die Verteidigung den Zeugen noch weiter befragen wolle. Curio, der äußerst bestürzt war, dass sich die Geschworenen abermals schützend vor Cicero stellten, bedeutete ihm mit einer verneinenden Handbewegung, dass er fertig sei, worauf das Gericht sich eilig vertagte. Eine bunte Mischung aus Geschworenen, Leibwächtern und Klienten bahnte Cicero einen Weg vom Forum bis hinauf zu seinem Haus auf dem Palatin.
Nach diesem Erlebnis hatte ich einen zutiefst aufgewühlten Cicero erwartet, und auf den ersten Blick schien er das auch zu sein. Das Haar stand ihm in Büscheln vom Kopf ab, und seine Toga war völlig verdreckt. Aber sonst hatte er alles unbeschadet überstanden. Er war sogar richtiggehend euphorisch, stolzierte in seiner Bibliothek herum und wiederholte ein ums andere Mal die Höhepunkte seiner Zeugenaussage. Er kam sich vor, als hätte er Catilina zum zweiten Mal besiegt. »Hast du gesehen, wie die Geschworenen sich schützend vor mich gestellt haben? Wenn man sich für das Beste an der römischen Justiz ein Symbol wünschte, Tiro, heute Morgen hast du es gesehen.« Trotzdem entschied er sich dagegen, zu den Schlussreden vor Gericht zu erscheinen. Erst zwei Tage später, zur Urteilsverkündung, wagte er sich wieder hinunter zum Tempel des Castor, weil er miterleben wollte, wie Clodius schuldiggesprochen wurde.
Die Geschworenen hatten inzwischen vom Senat bewaffneten Schutz angefordert, und so bewachte eine Zenturie Legionäre die Stufen, die zum Podium hinaufführten. Als Cicero sich den für die Senatoren reservierten Plätzen näherte, hob er den Arm, um die Geschworenen zu begrüßen. Einige winkten zurück, die meisten jedoch schauten nervös in die andere Richtung. »Ich nehme an, sie haben Angst, vor
den Augen von Clodius’ Pöbel zu ihrer Meinung zu stehen«, sagte Cicero zu mir. »Was meinst du, soll ich mich nach der Stimmabgabe zu ihnen stellen, um ihnen meine Unterstützung zu demonstrieren? Es gibt bestimmt Ärger, trotz der Soldaten, da könnte das vielleicht nicht schaden.« Ich war mir alles andere als sicher, ob das besonders klug war, aber zu einer Antwort kam ich nicht mehr, da in diesem Augenblick der Prätor aus dem Tempel trat. Cicero nahm seinen Platz ein, und ich mischte mich unter die Leute.
Anklage und Verteidigung hatten ihre Beweisführung abgeschlossen, so dass Voconius nur noch ihre Argumente zusammenzufassen und die Geschworenen auf einige rechtliche Formalien hinzuweisen hatte. Fulvia hatte man wieder neben Clodius platziert. Gelegentlich beugte er sich zu ihr und flüsterte ihr etwas zu, während sie mit festem Blick die Männer anschaute, die in Kürze über das Schicksal ihres Mannes entscheiden würden. Vor Gericht dauert alles immer länger, als man erwartet – Fragen müssen beantwortet, Rechtsvorschriften geklärt, Dokumente gefunden werden. Es verging noch mindestens eine Stunde, bis schließlich die Gerichtsdiener die Wachstafeln für die Stimmabgabe an die Geschworenen austeilten. Auf einer Seite stand das Zeichen für Freispruch, auf der anderen das für schuldig. Das Prozedere war auf größtmögliche Geheimhaltung angelegt: Es dauerte nur einen Augenblick, dann hatte der Geschworene mit dem Daumen das Zeichen auf einer Seite abgewischt und sein Täfelchen in die herumgehende Urne geworfen. Als alle ihre Tafeln eingeworfen hatten, wurde die Urne zum Tisch des Prätors getragen und ausgeleert. Die Menschen standen auf Zehenspitzen, um ja nichts zu verpassen. Manche hielten die gespannte Stille nicht aus und machten sich mit platten Sprüchen Luft. »Komm schon, Clodius!« – »Lang lebe Clodius!« Rufe, die von der Menge mit kurz aufflackerndem Beifall beantwortet wurden.
Um das Gericht vor Regen zu schützen, hatte man über dem Podium eine Plane aufgespannt. Ich weiß noch, dass das Leintuch in der steifen Maibrise wie ein Segel schnalzte. Schließlich war die Auszählung beendet, und die Strichliste wurde dem
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