02 Titan
die Tür hinter uns schloss und wir wieder in Sicherheit waren, fielen die morgendlichen Besucher über Cicero her. Da sie nicht wussten, was vorgefallen war, bedrängten sie ihn sofort und hielten ihm wie jeden Tag mit demütig flehendem Gesicht ihre Bittgesuche und herzzerreißenden Briefe entgegen. Cicero schaute sie mit schockgeweiteten, leeren Augen an und sagte mit niedergeschlagener Stimme zu mir: »Schick sie weg, alle.« Dann stolperte er nach oben in sein Schlafzimmer.
Nachdem alle Klienten das Haus verlassen hatten, wies ich an, die Vordertür abzuschließen und zu verbarrikadieren, dann ging ich durch die leeren offiziellen Räume und fragte
mich, was ich jetzt tun solle. Ich wartete darauf, dass Cicero herunterkam und mir Aufträge erteilte, aber die Stunden verstrichen, ohne dass er sich blickenließ. Schließlich kam Terentia. Sie hielt ein Taschentuch zwischen den Händen, das sie pausenlos um ihre unberingten knochigen Finger wickelte. Sie wollte wissen, was los sei. Ich antwortete, dass ich das auch nicht genau wisse.
»Lüg mich nicht an, Sklave! Warum hat sich dein Herr in sein Zimmer verkrochen und weigert sich herauszukommen?«
Ich erzitterte vor ihrem Zorn. »Er hat … er hat einen Fehler gemacht«, stammelte ich.
»Einen Fehler? Was für einen Fehler?«
Ich zögerte. Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Es waren so viele Fehler: Sie lagen hinter uns wie eine Kette von Inseln, ein Archipel aus Dummheiten. Vielleicht war »Fehler« das falsche Wort. Konsequenzen wäre vielleicht der genauere Ausdruck: die unabwendbaren Konsequenzen einer Tat aus ehrenhaften Motiven – ist das nicht die Definition der Griechen für Tragödie?
»Er hat es zugelassen, dass seine Feinde das Herz Roms unter ihre Gewalt bringen konnten.«
»Was heißt das genau?«
»Sie bereiten ein Gesetz vor, das ihn für vogelfrei erklärt.«
»Wenn das so ist, dann muss er sich zusammenreißen und gegen sie kämpfen!«
»Jetzt das Haus zu verlassen, das wäre sehr gefährlich für ihn.«
Während meiner letzten Worte konnte ich die Parolen des Pöbels auf der Straße hören. »Tod dem Tyrannen!« Auch Terentia hörte sie. Ihr Gesicht wurde starr vor Angst. »Was sollen wir jetzt tun?«
»Wir könnten nach Einbruch der Nacht Rom verlassen«,
sagte ich. Sie starrte mich an. Trotz ihrer Angst blitzte in ihren dunklen Augen für einen Moment das Erbe jenes Mannes unter ihren Vorfahren auf, der eine Kohorte gegen Hannibal geführt hatte. »Zumindest sollten wir«, fügte ich schnell hinzu, »all die Vorsichtsmaßnahmen treffen, die wir damals gegen Catilina getroffen haben.«
»Benachrichtige seine engsten Senatorenkollegen«, befahl sie. »Bitte Hortensius, Lucullus, jeden, der dir einfällt, sofort hierherzukommen. Hol Atticus. Leite alles Nötige in die Wege, um unsere Sicherheit zu gewährleisten. Und schick nach seinen Ärzten.«
Ich machte mich an die Arbeit. Die Fensterläden wurden geschlossen. Die Sextus-Brüder kamen. Ich ließ sogar Sargon, den Wachhund, der auf einem Hof außerhalb der Stadt sein Gnadenbrot bekam, wieder ins Haus holen. Am frühen Nachmittag trafen die ersten Freunde ein. Den meisten stand nach den letzten Schritten, die sie sich durch die protestierende Menge vor dem Haus hatten bahnen müssen, die Angst ins Gesicht geschrieben. Nur die Ärzte weigerten sich zu kommen: Sie hatten von Clodius’ Gesetzentwurf gehört und fürchteten sich vor Strafverfolgung.
Atticus ging nach oben zu Cicero und kehrte erschüttert zurück. »Er liegt mit dem Gesicht zur Wand auf seinem Bett und weigert sich, mit irgendwem zu sprechen.«
»Sie haben ihm seine Stimme geraubt«, sagte ich. »Und was ist Cicero ohne seine Stimme?«
Alle setzten sich in der Bibliothek zusammen, um zu beraten, was jetzt zu tun sei: Terentia, Atticus, Hortensius, Lucullus, Cato. Ob sonst noch jemand dabei war, habe ich vergessen. Ich saß stumm und fassungslos da, in dem Zimmer, in dem ich so viele Stunden mit Cicero verbracht hatte. Ich hörte zu und wunderte mich, wie sie über seine Zukunft beratschlagen konnten, ohne dass er selbst anwesend war. Es war, als wäre er schon tot. Der beflügelnde Schwung der Familie
schien sich verflüchtigt zu haben – der Scharfsinn, die schnelle Auffassungsgabe, der alle vorwärtstreibende Ehrgeiz. Terentia war diejenige, die einen kühlen Kopf bewahrte. »Besteht irgendeine Möglichkeit, dass dieses Gesetz nicht in Kraft tritt?«, fragte sie Hortensius.
»Kaum«, antwortete er.
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